Hier möchte man mal Häuschen spielen #Gibrantiago

Die Éclaire-Weihe gebe ich mir in Lemberg in einer Bäckerei. Das erste Éclaire im fremden Frankreich ist immer das Beste. Die pappigsüßen Dinger sehen aus wie eine Wurst im Blätterteigmantel, aber es sind mit Schoko- oder Vanillecreme gefüllte Etwasse mit einem harten Überzug aus Schokolade oder Vanille.Verschmierten Mundes stehe ich vor der Bäckerei. Sonne wärmt. Da spricht mich ein anderer Radler an, ob der Rahmen meines Radels aus Titan sei und streichelt über das Rohr und zeigt mit dem Kinn hinüber zu seinem Rennrad, das ganz genau die selbe Anthrazitfarbe hat. Alu sage ich, obschon ich mir dessen nicht so sicher bin. An seinem Helm klebt ein winziger Rückspiegel. Wir schwatzen ein bisschen, wie alt, woher, wohin, dass er zehntausend Kilometer pro Jahr radelt und über seine Radlerkollegen, der eine zum Beispiel, ein hagerer Kern, den man als KZ-Model casten könnte (hierbei zieht er die Backen zum Hungergesicht ein und lacht entschuldigend für den politisch unkorrekten Vergleich), dieser Kumpel war neulich beim Arzt wegen einer Herzgeschichte und die Diagnose lautete, Arterie zu vierzig Prozent verstopft, zu vierzig Prozent, wiederholt er und erst ab sechzig gibt’s ’nen Stent und der Arzt habe diesem Kumpel, ich stelle ihn mir mittlerweile als einen durchtrainierten Triathleten vor, emfohlen, er solle doch mehr Sport treiben. Haha.

Von Lemberg radele ich über mehrere Aufs und Abs durch Goetzenbruck und einen Weiler mit dem klangvollen Namen Huhnerscherr nach Wingen an der Moder, stets auf meiner alten Strecke Zweibrücken-Andorra (die Karte könnt ihr hier sehen ⇒ https://www.google.com/maps/ ) sozusagen durch mein 1500 Kilometer langes Wohnzimmer. Wunderschöne, kaum befahrene französische Sträßchen hinauf nach Phalsbourg, einer alten Vauban-Festung und hinab zum Rhein-Marne-Kanal bei Lutzelbourg. Dort folge ich dem Kanalradweg westlich. Ein Radlerisches Zuckerstückchen ist sicher die kurze Passage hinauf nach Arzviller, die über 13 Schleusen (oder mehr) in kurzer Folge durch ein felsiges Tal hinaufführt, stets direkt neben dem Kanal. Zwei Kanalhafen sind in der stillgelegten Passage. Teilweise verläuft der Radweg auf einem Steg, der auf Stahlpfosten mitten im trockengelegten Kanal gebaut wurde. Die alten Schleusenhäuschen sind meist renoviert und bewohnt. Nummer 12 und 13 wären noch frei. Ruinen ohne Dach. Hier ein Radlertreff aufbauen, das wärs, oder ein Klettertreff, denn direkt dahinter erhebt sich roter Fels. Hier möchte man mal Häuschen spielen, murmele ich. Mantrisch kurbelnd.

Es ist den ganzen Tag über ziemlich kalt. Windig. Ich glaube, den höchsten Punkt hatte ich in La Petite Pierre erreicht, wo ich bei einem Käsehändler vor dem Château ein Stück sündhaft teuren Käses aus einer Molkerei in Riquewihr (nahe Colmar) kaufe. Er selbst wohne in Straßburg und sei sozusagen fliegender Käsehändler (macht lenkende Handbewegung). Der Junge friert, trotz seines dicken Anoraks. Wie hoch ist La Petite Pierre? Fünfhundert Meter?

Ich frage mich auch, wie die vielen Motorradfahrer, die mir begegnen (tolle kurvenreiche Strecke), diese Kälte verkraften. Ich als Radler habe immerhin die Eigenwärme, die ich beim Berghochradeln produziere (beim Abwärtsrollen, friere ich mich fast kaputt, rolle langsam, bremse mich voran).

Hinter Arzviller folgt eine Art Ebene durch weites Weideland. In Guntzviller bin ich fast versucht, in einer Auberge abzusteigen, so kalt, so trist, doch dann erbitte ich Wasser bei einem wortkargen Kerl, der gerade seine Einkäufe aus dem Auto lädt und bereite mich auf die Zeltplatzsuche vor. Am Kanalradweg Richtung Sarrebourg wird sich doch wohl ein Plätzchen finden.

Es gibt einen Zweitäler-Radweg, der ungefähr meiner alten Strecke folgt, die ich 2000 und 2010 nach Andorra geradelt bin.

Nun sitze ich hier im Zelt nahe Lorquin auf einer rauhbereiften Wiese am Zweitälerradweg. Ziemlich trüb heute. Ab elf soll es regnen, sagt die Wetterapp. Auf der Tastatur sind die Umlaute ausgefallen und das P und das Fragezeichen. Es knnte ein komischer Text werden.

3 Gedanken zu „Hier möchte man mal Häuschen spielen #Gibrantiago“

  1. Hallo Jürgen,
    klingt nach einem schönen Tag – bis auf die Kälte natürlich. Mit der Eigenwärme beim Bergaufradeln und der folgenden drastischen Kühlung bergab, das Problem ist bestens bekannt. Ich habe – lang, lang ist’s her – einmal von einem alten begeisterten Radler gehört, dass die Rennradler in früheren Zeiten immer Leuten oben auf den Pässen stehen hatten mit alten Zeitungen, die die Radler sich dann als Windschutz unter’s Trikot vor die Brust gesteckt haben. Gutes Recycling, oder? Aber für Dich wohl etwas schwer zu organisieren. 😉 Und heute, im Zeitalter der elektronischen Medien, wohl auch nicht immer so einfach. Handy auf der Brust hilft ja wohl weniger. 😉
    „Häuschen spielen“: dieser Ausdruck gefällt mir. Und das Gefühl kann ich gut nachvollziehen. Ich finde bei Radtoruen auch immer wieder Stellen, die mich reizen würden.
    Ich schließe mich SoSo an: lass‘ Dir den Käse schmecken. Und: stay warm!
    Liebe Grüße,
    Pit
    P.S.: so, nachdem ich nun den ganzen Text auf meiner englischen Tastatur ohne Umlaute getippt habe, werde ich auf die virtuelle deutsche umschalten und die Umlaute einfügen, Und das „richtige SZ“.

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