Plötzlich Komma #Gibrantiago

Plötzlich, ein neues Land. Sätze, die mit „Plötzlich Komma“ beginnen sind mir spätestens seit 2010 lieb und teuer. Frau SoSo und ich tourten kreuz und quer per Auto durch Skandinavien und eines Tages geriet uns ein Tourismusprospekt in die Hände, in dem einer der wohlpreisenden, landschaftsverherrlichenden Sätze mit den Worten „Plötzlich, eine neue Gegend“ lautete.

Ein Insider, dieser Spruch, sozusagen.

Dass ich in einem neuen Land radele (obschon ich ja letzten Freitag auch schon ein paar Kilometer Schweiz in der verstädterten Zone um Basel absolviert hatte), wird mir spätestens klar, als ich mich in Brugg auf den Aareradweg schwinge und durch Auen und frühlingsergrünende Wälder nach Westen radele. Die Beschilderung ist perfekt. Fast wie auf dem deutschen Autobahnnetz. Sowohl die kleineren Orte sind ausgezeichnet, als auch die große Richtung. Bis Aarau sind es 31 Kilometer. Ich radele auf den Radwegen 5 und 8 durchs Mittelland. An Radwegekreuzungen stehen zudem Tafeln mit Landkarten und der Oberhammer: falls der Radweg nicht passierbar ist, wird eine Umleitung ausgeschildert. Wegen der Stürme und des üblen Winterwetters, treffe ich auf etliche Umleitungen. Zweimal sogar mit eigens vom Universum bereitgestellten Engeln in Bauarbeiterkörpern, die ich fragen kann, kommt man denn da mit dem Radel durch und sie nicken, aber ja, radeln sie nur weiter, junger Padawan, bzw., da gibt es eine Fußgängerbrücke, was mir den Umweg über Landstraßen erspart.

Die Schweiz ist ein seltsames Land. Es ist so perfekt durchorganisiert, so sauber, freundlich, friedlich, hilfsbereit, so, als würde man mitten in einem wohligweichen sofagewordenen Lächeln Platz nehmen und sich für immer ausruhen können. Aber es ist auch hektisch, das Land. Vom Radweg aus beobachte ich die Verkehrsströme, die Autobahnen, die Bahnlinien und Landstraßen, die Schul- und Linienbusse, unaufhaltsam, wie gepumpt wirkt das alles. 2014, als Frau SoSo und ich zum Gotthard hinauf wanderten, wurde mir diese Zwiespältigkeit erstmals bewusst: ein übervolles Land, das nach und nach zugebaut wird und in dem sich die Menschen in den Tälern dicht an dicht drängen, in dem die richterlichen Verbote wie Krokusse aus dem Boden sprießen. Oft findet man Tafeln vor Grundstücken und Hofeinfahrten, auf denen kleingedruckt die gesetzlichen Beschlüsse, wer wann wie das Grundstück betreten darf, erläutert werden, inklusive Aktenzeichen. Alles wird geregelt, damit man es pumpen kann.

Die Hänge im Aargau zieren zunehmend mattenartige, hunderte Meter lange, terrassenartige Wohnanlagen, die vom Tal hinaufzüngeln bis zu den Waldrändern.

Ich komme gut voran. Kurz vor Aarau erklärt mir einer den alten Römerpass, der hinüberführt ins Fricktal. Unheimlich steil sei die Straße. Die solle ich nicht nehmen. Ich bin doch nicht verrückt, sage ich, und dass ich mich stets an die Flusstäler halte. Aarau, Olten, Aarberg, zwischendurch ein unheimliches Atomkraftwerk. Nachdem ich es passiert habe und mir aus der Ferne die Dampfwolke aus dem Kühlturm betrachte, die die Sonne verfinstert, kommt es mir vor wie die kleine, vermenschlichte Dampflok aus einem Disneyfilm, mit großen Kulleraugen und einem Grinsen und die Dampfwolken stehen stoßweise im Himmel. Geschäftigkeit, Geschäftigkeit, Geschäftigkeit. Pumpe, Pumpe, Pumpe. Das ist die Schweiz. Das ist das Menschenmiteinander. Das ist die Welt (im alten Irgendlink-Blog hatte ich mal einen Artikel über die Pumpenhaftigkeit allen Seins geschrieben. Der verliert nie seine Aktualität).

Aber dann auch wieder die Zwischenwelt, wie wir sie im wilden Reusstal erlebten und wie ich sie auch hier auf den noch fast leeren, vorfrühlinghaften Radwegen erlebe. Kaum Menschen. Kaum Konfliktpotential. Man kann frei atmen und sich vorstellen, man wäre allein im ganzen Land. Ich gebe zu, dafür braucht es sehr viel Phantasie.

Solothurn. 17 Uhr. Noch dreißig Kilometer bis Biel-Bienne, meinem Tagesziel, wo ich bei meinen Freunden Marc und Rossana übernachten kann.

Solothurn liegt an der Aare. Es hat einen absolut unförmigen, ich glaube fünfeckigen alten Turm mit spitzem Dach. An der Aare hunderte Meter lange Häuserfronten. Schöne, alte, gepflegte Bauwerke. Vier Gören, kaum vierzehn, die sich demonstrativ Zigaretten anzünden und dort, wo die Sonne ein zig Meter langes Straßencafé mit Außensitzbereich trifft, direkt am Aarequai, sitzen zig, vielleicht über hundert junge Leute draußen, schwadronieren, rauchen, trinken Kaffee und Bier, feiern den Feierabend und die Rückkehr des Frühlings.

Es ist nicht sehr warm. Die Sonne sinkt. Der Held (ich) reitet in den Sonnenuntergang, denke ich, als ich die Witi erreiche. Die Weite. Das ist ein renaturiertes, total flaches Stück Land zwischen Solothurn und Biel. Die Hauptstraße hat man eingegraben und in einen Tunnel verlegt. Die Wiesen werden zwar noch bewirtschaftet und vereinzelt liegen Gehöfte in dieser Weite, aber die Wiesen werden nicht mehr gedüngt. Campieren darf man hier nicht und auch kein Feuer, kein Lärm, kein Müll usw. Meist sind das ja Selbstverständlichkeiten. Trotzdem hie und da das eine oder andere richterliche Verbot. Im Norden, rechts von mir, streckt sich das Juragebirge. Wo ist der Chasseral? Er ist der höchste Berg des Jura. Schnee überall. Ich bin wohl ziemlich hoch. Die Witi ist gerade so schneefrei.

Gegen Dämmerung radele ich über den Radweg 24 nach Biel hinein. Er führt über die Hauptstraße. Nicht sehr schön, aber es sind auch nur acht Kilometer.

Nun in der Künstlerbude von Marc und Rossana.  Vierter Stock. Dächermeer. Überall stehen, liegen, hängen Gemälde. Rossana bereitet gerade eine Ausstellung in der mexikanischen Botschaft in Bern vor, die nächsten Donnerstag eröffnet wird.

Abends daten wir uns gegenseitig up, wer hat was wann gemacht und wird wann was machen, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Und Marc schlägt vor, dass er im Mai nach Zweibrücken kommt und wir dann eine gemeinsame Kunstaktion machen und darauf freue ich mich schon jetzt.

Ich sitze auf dem Bett, schreibe dies. Die Stadt erwacht. Der Ostwind drückt die Rauchsäulen der Kamine über den Stadtwohnungen liegen waagrecht gen Westen und das ist gut so.

9 Gedanken zu „Plötzlich Komma #Gibrantiago“

  1. So ein fleißiger Schreiber nach langer Tour und Besuchs-Gesprächen – es scheint, dass eine neue Tastatur den Weg in die Packtaschen fand.
    Gutes Radeln an diesen raureifgeschwängerten Tagen, die noch so gar nicht märzhaft sind.

  2. Dein Bild der Schweiz – von (halb) außen – finde ich spannend und einmal mehr sehr treffend. Scharf beobachtet, wie hinter der sauberen Fassade diese Pumpe wirkt. Hier und fast überall.

    Klasse Text!

    Grüß M und R nochmals herzlich und reise gut weiter!

  3. Ja, echt, so viel schreibst Du, nach solch langen Tagen – mir kam dieser Gedanke wie Kai. Wie beflügelnd diese neue Tour auf Dich wirkt – hm, so scheint es jedenfalls von hier aus.
    (Oder ist das nur, weil ich mich selbst im Moment so unendlich lahm fühle und ja alles alles, was außerhalb von mir geschieht, mit meinem Innen abgleiche und daher der Kontrast so groß ist?)
    Bunte warme Grüße in Deine nächsten Etappen!

    1. Die schnellen und die langsamen Phasen wechseln sich ja ab. Wie Sommer und Winter. Man muss das zulassen.
      Was das vield Schreiben betrifft: es fällt mir nicht leicht und ich muss mich disziplinieren. Aber es ist ja auch Arbeit und die will nunmal erledigt werden.

Schreibe einen Kommentar zu Der Emil Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

%d Bloggern gefällt das: