Das Ziel jedes Ankommens und das Ziel jedes Abreisens

Wieder diese Abreisenervosität. Es sind definitiv zwei Welten, zwei Leben, die ich lebe. Das wohlige Zuhauseleben mit seinem geregelten Alltag, den warmen Mahlzeiten, Betten und Wohnungen, der Immerverfügbarkeit von Strom, Warmwasser und Dachüberdemkopf und das unstete Unterwegssein mit Fahrrad und Zelt, in Siebzig- bis Hundertkilometerabständen vorwärtsstrebend. Wohin, wohin, wohin? Wozu, wozu, wozu?

Beides sind gute Leben. Beides sind gute Daseinsformen. Aber der Wechsel zischen diesen Lebenssphären, der regt mich auf, insbesondere derjenige, vom ’stationären‘ Alltag in den unsteten Alltag des Unterwegs-Reisekünstlers.

Dabei dauert es nur einen kurzen Moment, bis man sich – bis ich mich – vom daheim in Sicherheit lebenden Menschen in den Reisekünstler verwandele. Ich muss nur die vier Packtaschen ans Radel hängen, die Radlerklamotten überstrippen, mich auf den Sattel setzen, mich nach den Lieben noch einmal umdrehen, die mir winken, zurückwinken, Tränen, gewiss, und nach ein, zwei Kurven, nichteinmal einen Kilometer weiter, bin ich schon wieder mitten drin im mantrischen Tritt, der die Hirnmühle verlangsamt, sie normalisiert, und der einen den manchmalen Hickhack des anderen, des stationären Alltags vergessen (oder verdrängen?) macht.  Über den Übergang habe ich letzten Sommer schon einmal geschrieben, während der Reise ans Nordkap in einem anderen Zusammenhang.

Annahme: Das Ziel einer jeden meiner Reisen ist der Stillstand. Nicht unbedingt das Ankommen an einem bestimmten Ort, genannt Ziel, sondern tatsächlich so langsam zu werden, dass sich die gelebte Gegenwart und mit ihr ihre glättende Wirkung, die die Seele zur Ruhe bringt, so weit wie möglich ausbreitet und dass man die Zeit vergisst und sich so eine Art Ewigkeit inmitten der Endlichkeit erkämpft, die man sonst nirgends leben kann.

Im Gegenzug ist vielleicht das Ziel eines jeden Ankommens und des damit einhergehenden (Da)Seins, innerlich in Bewegung zu geraten, in Schwingung?

Ich weiß es nicht. Am Vortag der Weiterreise nach Gibraltar bin ich jedenfalls ziemlich nervös. Ich habe eben mit Freund Marc in Biel-Bienne telefoniert. Wahrscheinlich schaffe ich die etwa hundert Kilometer auf der Schweizer Mittellandroute an einem Tag (ohne Gepäck und untrainiert habe ich es vor zwei Jahren ja auch geschafft). Er und seine Frau Rossana erwarten mich morgen Abend. Beide sind international künstlerisch tätig und knüpfen an einem weltweiten Netz gemeinsam malender Künstlerinnen und Künstler (Col-Art).

5 Gedanken zu „Das Ziel jedes Ankommens und das Ziel jedes Abreisens“

  1. Ich habe nun rückwärtig aufgeschlosse, keine Ahnung, ob du das je lesen wirst, ich schreibe es trotzdem.
    Bevor ich diesen Artikel las, dachte ich, was soll eigentlich mein ganzes Gehassel, das zunehmend an meiner Gesundheit und meinen Nerven zährt und zerrt? Wieso nicht noch einfacher, nicht noch mehr unterwegs sein?
    Du machst es vor, ich denke ernsthaft nach.

    Dein Artikel ist die Bestätigung. Und nicht genug, heute morgen las ich folgendes: „Wenn wir niemanden Schaden zufügen wollen, dann müssen wir erwachen. Die voraussetzung dafür ist unter anderem, dass wir unser Tun verlangsamen, dass wir bemerken, was wir sagen und tun. Je besser wir unsere emotionalen Kettenreaktionen verstehen und ihre Abläufe begreifen, umso leichter fällt es uns, sie zu vermeiden. Wach bleiben, langsam werden und beobachten, was vor sich geht, werden so zu einer Lebenshaltung.“ Pema Chödrön

    Innen wie Aussen … Aussen wie Innen … kein Innen, kein Aussen.

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