Ich sitze auf einem Feldweg auf meinen Fahrradhandschuhen in der welligen, doch ebenen Gegend zwischen den beiden großen Schweizer Seen. Das ist das dominante Bild, das mir vom gestrigen Tag geblieben ist. Wie ich eine Banane schäle, vom stumpfen Ende aus, so mache ich das immer, und die Wurst, eine typische Schweizer Cervelat, drei mal zehn Zentimeter groß, und mir dabei denke, bei uns würde man diese Wurst Lyoner nennen und sie wäre dicker und ein Ring und wieder woanders würde man sie Fleischwurst nennen in Dosen. Kleingecuttertes Etwas aus Schwein, Wasser und Gewürzen. Cervelat ist die Schweizer Nationalwurst, habe ich mir sagen lassen. Im Norden steht eine viele Kilometer lange, weiße Wand. Das ist bestimmt der Chasseral. Der höchste Berg des Juras. Eben habe ich noch, das ist etwa dreißig Kilometer her, in Biel am Hafen ein Personenschiff mit dem Namen Chasseral gesehen, direkt neben einem anderen Personenschiff namens Stadt Biel.
Die Passage am Südufer des Bielersees ging schneller vorbei als erwartet. Wegen Bauarbeiten am Radweg musste ich hinaufschieben, fünfzehnprozentsteil, bis zur Hauptstraße, um mich dort von dem kräftigen Ostwind weitertreiben zu lassen.
Nun hier, zwischen den Seen, Mittagspause bei Wurst, Banane und Käse und Brot natürlich. Ein Wäldchen hält den Wind ab. Ein Hochsitz gleich nebenan. Seichte Sonne. Die Weite macht mir zu schaffen. Das ist kein guter Tag fürs Gemüt. Wenn ich ein Schiff wäre, ich hätte endlich abgelegt und würde über unbekannte Meere segeln, in der Hoffnung auf einen sicheren Hafen, irgendwann. Herzklopfen. Einsamkeit. Ich bin alleine und werde in den nächsten Tagen keine Freunde mehr besuchen können. Ich kenne niemanden, der zwischen Biel und Perpignan wohnt.
Ab Ins wird der Radweg, der durch karge, in Bestellung begriffene Felder führt derart langweilig, dass ich beinahe verzweifele. Zudem Sägezahnprofil. Als habe man einen Alpenpass in Stücke geschnitten. Wie damals in Småland, nur eben in kalt und kahl und mit gemeinen weißen Bergen. Der einzige Trost ist der Rückenwind, der mich ordentlich anschiebt. Keinen Meter führt die Fahrradroute am Lac de Neuchâtel. Sie schlängelt sich auf Feldwegen ein paar Kilometer südlich vom See auf der Sägezahnebene. Erst in Estavayer, das ich gegen 17 Uhr erreiche, wird die Gegend schöner, radele ich durchs Mittelalterstädtchen, reite durch ein uraltes Tor in der Stadtmauer, kaufe in einer Boulangerie ein Pain und une Pièce de Pizza – längst spricht man französisch, längst habe ich den Röstigraben, über den Frau SoSo in der Homebase gestern geschrieben hat, überquert.
Das Gefühl von Einsamkeit und Verlorenheit, das sich zuvor als eine Art unangenehmes Kitzeln in einem Dreieck zwischen Schulterblättern und Stirn manifestiert hatte, lässt langsam nach. Achtzig Kilometer in den Beinen. Ich mache Fotopause in einem Wäldchen. Zwei Radler, ein Paar, kommt mir entgegen mit kleinem Gepäck, rotgesichtig, mit drei Lagen Kleidern. Wanderschuhe, statt etepete Radlerdesignerschühchen. Stoppen, Bonsoir, Bonsoir und verwickeln mich in ein Gespräch. Engel. Definitiv, die mir gesandt wurden, um so kurz vor Abend die Einsamkeit auszutreiben. Den Einsam mit dem Gesellschaftslebub austreiben, spinne ich dadaistisch. Sie wollen alles von mir wissen, ob ich rund um den See fahre, nein, nach Genf, und oh, was ist denn das, guckt er aufs Smartphone, das am Lenker blinkt, GPS, herzig und sie erzählen auch von sich, dass sie dem Frühling entgegen radeln, ihr Auto in Estavayer stehen haben, da noch hin wollen, gegen die Bise, den Ostwind, ankämpfen, der das Wetter so schön macht und dann Räder und Gepäck einladen und nach Hause fahren in ein kleines Dorf.
Jaja, Zeltplätze gibt es übrigens genug, sagen sie, aber ist noch recht kalt, oder? Wie wäre es mit dem Maison de la Jeunesse in Yverdon, der Jugendherberge? Die ist nicht sehr teuer.
Ich erinnere mich, dass ich schon einmal in dem Haus war, ich glaube, bei meiner Schweizumrundung 2001. Ein warmer Ort mit Frühstück am See. Guter Plan.
So radele ich weiter, die Laune hat sich gebessert, was immer eine gute Sache ist, wenn sie sich vor Einbruch der Nacht bessert.
Viel Wald. Naturschutzgebiet, hohe, bröckelige Felswände zur Linken, rechts Schilf und immer wieder Häfen und immer wieder Grundstücke, auf denen sich dicht an dicht Segelboote drängen, die darauf warten, gewassert zu werden, sobald es ein bisschen besser ist mit dem Wetter. Der Traum von Freiheit auf See endet auf See. Wenn See klein, dann Freiheit nur eine Illusion, radebricht mein Hirn und es versucht zu errechnen, wie weit der Wasserspiegel steigt, wenn alle Boote ins Wasser gelassen werden. das ist doch wie mit dem Gold und Archimedes oder wer hat das mit dem Volumenverdrängen ausprobiert, damals.
Ich rede wirr. Plötzlich, Yverdon. Hatte sich Etavayer lange hingezogen, im Erreichtwerden, kommt Yverdon um so unerwarteter. Die Jugendherberge ist jedoch zwischen 1. November und 20. März geschlossen, lese ich auf der Homepage.
Da kommt mir der Steinkreis aus zig grauen, unheimlichen Menhiren am Ortseingang gerade recht. Schönes, flaches Zeltareal, leider sehr nah bei der Straße. Ein Badmintoncenter. Stadtleben, Schienen, direkt daneben Sumpfwald und dahinter hört man, wie die Bise den See zu Wellen auftürmt und ihn malmend ins Schilf treibt.
Hach, das klingt doch nach einem dieser Tage, die man wirklich erst am Abend bauchpinseln sollte, weil sie zwischendrin so tun als ob.
Schön deine Cervelat-Gedanken und dass du immer wieder auf Engel trifft!
Hallo Juergen,
zu Cervelat und Kaese haette ich mir noch einen Vin Rouge gewuenscht.
Hab’s weiterhin fein,
Pit
Zwischen Biel & Perpignan kennst Du noch niemanden. Aber wer weiß, wen Du kennst, wenn Du Perpignan erreichst?
Vielleicht kommen Dir noch ein paar Menschen entgegen, warten auf Dich, nehmen Dich auf in ihren Garten, ihr Haus & Herz, auf ihre Weiden und Wiesen — vielleicht auch in ihre Sammlung an „Weißt-Du-nochs“ (weißt Du noch, der verrückte fotografierende Radfahrer damals) …
Im Steinkreis aus der Steinzeit schlafen wie ein Stein. Und am Morgen steinreich erwachen — das wär’s.