Du Radel, ich Hornbrille und Fiat #Gibrantiago

Verflixt. Die Streichhölzer sind alle. Zwar gibt es Ersatzstreichhölzer in den Packtaschen, draußen am Radel, aber ich habe keine Lust, das Zelt zu verlassen. Eben noch habe ich Kaffee gekocht mit dem letzten Streichholz, dann arglos den Kocher ausgemacht, der aber eine prima Zeltheizung ist. Draußen ist alles weiß. Die bisher kälteste Nacht. In Fontenoy-le-Château, bis wohin der Kanalradweg ab Épinal am Canal de l’Est führt, war partout kein Zimmer zu kriegen. Alles vernagelt. Viele Häuser verlassen, mit ‚À Vendre‘-Schildern gespickt, das ganze Dorf. Zudem war gestern Montag. Und montags haben auf dem Land hier in der Gegend alle Läden zu. Der einzige Hoffnungsschimmer ist eine Bäckerei, in der es auch Konserven zu kaufen gibt. Komme um 16:30 wieder, hängt ein handgeschriebener Zettel an der Tür. Der Bäcker begegnet mir auf der Straße um viertel nach vier, er muss zur École, zur Schule, das Kind abholen. Und da muss nun das ganze Dorf warten vor dem Laden. Ein Typ mit Hornbrille, der mit einem winzigen, roten Fiat knatternd vorfährt. Klingt nach Zweitaktmotor, das Auto. Und jener andere Mann, den ich kaum verstehe wegen seines Dialekts. Unisono sagen alle, es gibt keine Zimmer in dem Dorf. Kein Hotel. Der Camping ist zu. Das Café, montags geschlossen und der Laden auch. Die Schule, gleich um die Ecke bringt Leben ins Dorf. Busse fahren vor, Schulaus um 16:30. Vereinzelte Eltern, zu Fuß, lümmeln vor dem Schultor. Reden miteinander. Dann quellen die Kinder aus dem Schulhaus. Dann öffnet die Bäckerei, kaum hundert Meter davon entfernt. Dann ist der Laden plötzlich rappelvoll. Ein aufgeregter Junge kommt herein und redet auf alle ein und als er wieder hinaus geht, an mir vorbei, redet er auch auf mich ein, die Scheißerei sei ausgebrochen, soviel verstehe ich, ein Virus, man müsse aufpassen. Kurz nach fünf verlasse ich das Dorf über die D40 nach Saint-Loup-sur-Semouse. Da gebe es Zimmer, sagt man mir, aber es seien 15 Kilometer und zwar bergauf. Kaum Netz im ganzen Dorf. Ich sende Frau SoSo verzweifelete Botschaften, dass ich vielleicht nicht mehr erreichbar sein werde die nächsten Stunden, quetsche Bit um Bit durchs fluktuierende Netz und laufe, das Smartphone hochhaltend, orientierungslos wie ein Huhn hin und her. Vielleicht die ganze Nacht werde ich nicht erreichbar sein. Das französische Mobilfunknetz ist eine Scheibe und wer sich zu nah an den Rand wagt, der stürzt ab. Das Dorf ist ein Idyll. Mit dem Typ mit Hornbrille und knatterndem Fiat würde ich gerne die Leben tauschen. Ich bin berauscht von seiner Biografie, die ich mir innerhalb Sekundenbruchteilen zurechtphantasiert habe: Ex Fremdenlegionär, Schäfchen ins Trockene gebracht, alles Übel dieser Welt verdrängt in den Tiefen der eigenen Seele, nun Landschaftsmaler, lebt von geraubtem Gold in einem zerfallenden alten Häuschen. Oder schreibt. Ob er sich innerhalb der wenigen Sekunden, die wir einander begegneten auch so ein Bild von mir zurecht phantasiert hat? Er würde mich vielleicht für verrückt halten, wenn ich ihm vorschlüge: „Du Radel, ich Hornbrille und Fiat“. Dennoch.

Am Ortsrand vermietet einer eine Garage. Ich überlege, ob ich sie vielleicht für eine Nacht mieten soll, das Zelt darin aufbauen. Besser, als bei zu erwartenden Minusgraden draußen auf einer Weide. Dennoch weiter, durch ein schmales Tal und nach wenigen Kilometern bin ich plötzlich oben in einem Weideland mit einzelnen Gehöften und, oh Wunder, das französische Mobilfunknetz ist gar keine Scheibe, es geht weiter, ich habe wieder Empfang. Beim Dorf Cuve finde ich in der Dämmerung eine schöne Wiese. Die Bergaufradelei hat mich erwärmt. Das macht Mut, das Zelt aufzubauen. Nach achtzig Kilometern bin ich müde, keine Lust, mich in Saint-Loup nach einem möglicherweise potemkinschen Zimmerchen durchzufragen. Ein guter Platz, obschon er direkt unter einer Flugroute zu liegen scheint, in regelmäßigem Abstand donnern Flieger durchs Idyll.

3 Gedanken zu „Du Radel, ich Hornbrille und Fiat #Gibrantiago“

  1. Das erinnert mich sehr an eine Radtour von Toulouse ab, Mitte September. Kein Camping hatte mehr offen. Nein, einer war geöffnet. Wir erreichten ihn bei einbrechender Dunkelheit, in Regen und aufkommendem Sturm. Am kommenden Tag sahen wir dann, dass es ein Nudisten-Camping war. Aber es war allen zu kalt …
    Gute Fahrt und warme Zimmer wünsche ich Dir!

  2. Warum auch immer noch, denke ich gerade an einige Krimis, die in Frankreich spielen, weniger an die Krimis selbst, als an das Leben dort, das ich ja auch immer mal wieder hier und dort beschnuppern konnte …

    good days and ways, lieber Jürgen
    Ulli

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

%d Bloggern gefällt das: