Jetzt bloß keinen Kreuzschlitzschraubendreher brauchen. Und auch keinen Schlitzschrauber. Schaltungeinstellen kann ich wohl knicken, denn genau dafür bräuchte ich den Bit, der am Pass de Canes liegt. 1120 Meter hohes Ding. Wetterscheide. Prüfstein, Beinahekollaps der Schaltung. Eines der beiden kleinen Zahnräder des hinteren Schaltwerks hatte sich von seinem Lager gelöst und steckte quer, scheinbar unreparierbar. Das Radel wäre wegen so eines winzigen Defekts nur noch als Schieberad zu benutzen (was auch okay gewesen wäre, da man die knapp 15 Kilometer von Olot hinauf zum Pass sowieso nur mit fünf bis zehn Kilometern pro Stunde vorankommt). Der Nieselregen, der mich ortsausgangs Olot begleitete, hatte zum Glück nachgelassen und ich war guter Dinge, diesen ersten von drei oder vier Pässen bis hinüber ins Hinterland um Lleida schmerzlos erklimmen zu können. Bewusst habe ich nicht erforscht, wie hoch der Pass ist. Die Kenntnis von der Schwere des Hindernisses, das es zu bewältigen gilt, egal, ob dies nun ein Berg ist, oder irgendein anderes Hindernis, kann sich unter Umständen als Gegenkraft manifestieren und einem den Weg, den man ohnehin zurücklegen muss, zur Hölle machen. Fidele Passfahrerei ohne Vorankommenswunsch sozusagen.
Ich musste die Schaltung zerlegen, mitten auf der Straße, was gefahrlos möglich war, denn niemand, absolut niemand, benutzt offenbar die Straße. Über Minuten, zig Minuten kurbelte ich alleine auf der N-260a. Sie ist wohl die alte Straße, die nun fast stillgelegt ist. Zudem Ostersonntag. Irgendwo parallel gibt es eine neue, vermutlich mit Tunnel.
Schwarze Hände bis fast zum Ellbogen, als hätte ich einer öligen, mechanischen Kuh bei einer Steißgeburt geholfen. Nimmerabgehendes Fett. Beide Rädchen ausgebaut, hämmere ich das kaputte mit dem Schweizermesser wieder auf sein Edelstahllager und vertausche die beiden Räder.
Ab da lief es dann wieder, bis ich unten in Ripoll noch ein paar andere Schrauben nachziehe und dabei bemerke, dass ich den Bit habe liegen lassen.
Kaufe Brot und ein Stück Pizza in einer ostersonntagsoffenen Bäckerei, beobachte den stoßweisen Verkehr in der Hauptstraße, esse Banane, beobachte zwei Jungs, die an der Hauptverkehrsstraße Fußball spielen auf einem länglichen Fußballfeld namens Gehweg, weine dem Bit nach, überlege, wofür ich das Werkzeug im Notfall brauchen würde, komme zu dem Schluss, dass es verschmerzbar ist, schwöre mir, auf einer Parkbank in der Sonne direkt neben der Hauptstraße, direkt neben dem länglichen Fußballfeld sitzend, endlich einmal alle Schrauben am Radel nachzuziehen. Das Gerüttel im eigenen Kopf, löst das Schrauben? Weiß man da schon was drüber?
Raus aus Ripoll bei einem zentralen Kreisverkehr, der die alte N-260a mit der N-260 vereint, regeln zwei blutjunge Polizisten den Verkehr, jeder mit einer Trillerpfeife bewaffnet, und ich werde Zeuge eines eigenartigen Konzerts. Jetzt Komponist sein, jetzt die Situation beim Schopfe packen, jetzt dieses stoßweise Trillern mitschneiden, ihm den letzten Schliff geben, ein Meisterwerk schaffen mit dem Arbeitstitel Almabtrieb. Das wärs. Das würde das längste Konzert der Welt in Halberstadt alt aussehen lassen. Philip Glass könnte einpacken. Ha. Konzertale Allmachtsphantasien. Ich könnte stundenlang in diesem Kreisverkehr stehen und den Beiden zuschauen. Neben mir brummen die Diesel und von rechts pumpt es eine nichtendenwollende Autoschlange aus den Bergen. Mit Skiern auf dem Dach, mit Anhängern hintendran, auf denen solch schmutzige Motocrossmaschinen stehen und Kleinwagen und Lieferwagen voller Großfamilien und die beiden Verkehrspolizisten rudern mit den Armen und wechseln, als stünde da irgendwo ein unsichtbarer Dirigent, virtuos den Trillerrhythmus.
Ein, zwei Kilometer auf den beiden (vereinten) N-260s und schon bin ich wieder raus aus dem Getümmel, kurbele meine So-sollte-es-sein-Straße hinauf Richtung Berga, auf der wieder kaum Verkehr herrscht, und wenn, dann langsam, vorsichtig, rücksichtsvoll.
Wieder ein Pass von unklarer Höhe. Als ich bei Matamala, dem vermutlich oder hoffentlich höchsten Punkt, das GPS einschalte, zeigt es mir 974 Meter an. Und abwärts. Ziel ist Borredà, wo sich der Kreis zu meiner Reise 2010, einer meiner gescheiterten Gibraltarexpeditionen, endlich schließen soll. Aber so weit komme ich gar nicht. Ein Campingplatzschild lockt mich etwa fünf Kilometer vorher weg von der Straße. Und da ich müde bin und im ganzen Tal wegen Naturschutzes das Wildzelten verboten ist, biege ich ab und lande … naja, auf einem suboptimalen Platz voller Leben und Hunde, die mich und das Radel sofort bebellen, umringen, belechzen, einer will sogar am Radel hochklettern, aber die Leute sind so freundlich und so lasse ich mich ein unter dem Motto ‚wild geht nicht, Leute nett, buche es als Erfahrung‘, checke ein beim stoischen Besitzer, der meine Personalien in den Computer hackt, mir einen Cortado (winziger, kurzer Kaffee) bereitet und schon palavere ich am Tresen mit zwei Typen, die mir Spanien erklären, eine Karte malen, etwas von der Vuelta erzählen und ich soll doch die Küste runter radeln, durch Barcelona, schwer, ihnen klarzumachen, dass ich Ruhe brauche und das Durchradeln von Großstädten für mich Horror ist (da war diese Barcelonadurchquerung 1992, als wir auf einer fünfspurigen Autobahn auf dem Seitenstreifen nach Süden rausradelten, nein, nicht nur wir, auch etliche barcelonische Freizeitradler).
Der Camping ist zweigeteilt. Auf dem oberen, ziemlich belegten Platz herrscht reger Betrieb. Es gibt nur zwei Zeltplatzmöglichkeiten. Entweder neben dem Waschhaus, direkt unter einer Hütte, aus der Technomusik dröhnt, oder beim Spielplatz vor der Rezeption, in der es heiß hergeht und vor der die Hunde herumstreunen.
Hund oder Techno?
Der untere Platzteil scheint geschlossen. Schon will ich vorm Technohaus die Heringe in den Boden treiben, da sehe ich, dass sich unten, im Paradies beim Bach, doch etwas tut. Also nix wie hin.
Puh. Das ging gerade nochmal gut.
Das Zelt steht nun abseits des Getümmels und ich habe eine neue Faustformel für mich gefunden, die da lautet: soweit weg wie möglich von den Menschen (und ihren Hunden).
Vielleicht musste das mit dem verlorenen Bit sein, weil du so einem Alltagsengel oder einem Alltagswunder die Tür geöffnet hast? ?
Oder du findest ganz profan einen Radladen oder einen Baumarkt, wo du das Teil nachkaufen kannst?
Und noch anders: Jemand hat auf dem Coll de Canes eine Panne und ihm fehlt genau das Bit, das du liegenlassen hast, findet deins und dankt dem Alltagswunderengel namens Irgendlink unbekannterweise.
🙂
Ein Bit.
Welche Kleinigkeit. Und wie wichtig solche Winzigkeiten sein können.
Du hättest Schriftsteller werden sollen. . ..
In einem Paralleluniversum bin ichs vielleicht 🙂
In meiner Definition von Schriftsteller bist Du auch hier schon einer …
Es spielt ja auch keine Rolle, was man ist, hauptsache man tut was man kann oder/und will. Ich finde ja den unbekannten Autor der Cloud of Unknowing spannend oder den mysteriösen B. Traven. So will ich auch mal werden. Nie existiert haben aber zu Lebzeiten gut gelebt und sein Schärflein beigetragen haben.
Da faellt mir natuerlich der Bier-Werbespruch ein, „Bitt ein Bit.“ 😉
Hoffentlich brauchst Du das metallische Bit nicht. Ein (gutes) Bier wirst Du ja leichter finden koennen.
Mach’s gut,
Pit
San Miguel ist hier sehr verbreitet. Und Amstel.
Danke Dir, dass Du Deinen anstrengenden Radlertag in so schön gesetzte Worte gießt. Toitoitoi für den weiteren Weg.