[Endlich läuft auch der Europenner-Server (siehe Irgendlinkblog) wieder … darum nun endlich nun auch hier noch der letzte Artikel zur Reise nach Gibraltar.]
Und jetzt? Eine Hütte am Stausee. Der Wind braust, pfeift durch die Ritzen, so dass ich die Kälte an den Füßen spüre, am Hals, überall dort, wo nicht genug Kleider den Körper bedecken.
Erstmals seit ewigen Tagen sitze ich wieder an einem Tisch, habe die Bluetoothtastatur vor mir. Fast wie eine Schreibmaschine. Fast wie ein richtiger Schriftsteller sehe ich wohl aus.
Ich bin alleine auf dem Hüttencamping. Das Internet und das GPS haben mich auf den recht neuen Campingplatz von San José del Valle geführt. Nach der Sucheingabe von ‘Camping Jerez de la Frontera’ tauchte er als einer von zwei Plätzen auf, die nahe beim Flughafen liegen.
Was heißt nahe? Es sind noch vierzig Kilometer zu radeln bis zum Terminal.
Gestern war ein überraschender Radeltag. Frühmorgens, ich hatte den Wecker gestellt, kalkulierte ich etwa 120 Kilometer bis in die Gegend um Jerez und das wären bei 15 Kilometern pro Stunde, so mein Langzeitdurchschnitt, etwa acht Stunden reine Radelzeit. Ich hatte mir vorgenommen, so nahe wie möglich an den Flughafen zu radeln, um am Mittwoch stressfrei einchecken zu können. Die beiden Campings waren grobe Richtungsweiser, obschon mir ein Nachtlager direkt vor dem Terminal – so wie in Alta, letztes Jahr – lieber wäre. Dennoch, erst einmal dahin kommen. Ab dem Camping Rio Jara zeigte die Open Cycling Map eine Radwegalternative zur N-340 durch die Berge an, den Rio Jara hinauf, die ich nehmen würde, um die ekelhaft stark befahrene Nationalstraße wenigstens teilweise zu umgehen. In Gedanken hatte ich Gegenwind und steile Strecke, wenigstens teilweise, aber der Optimist in mir nahm die 15 km/h als Berechnungsgrundlage.
Die Realität sah bei Verlassen der burgähnlich ummauerten Campinganlage ganz anders aus. Der Wind blies aus Südosten. Die N-340 schien, um 9 Uhr früh, kaum befahren, weshalb ich direkt auf den Seitenstreifen einspurte und auf der Nationalen blieb. Was für ein Schicksal. Was für eine wunderbare Fügung. Mit zwanzig bis dreißig Sachen brauste ich durchs Flachland, überwand einige kleinere Steigungen und befand mich nach 44 Kilometern und knapp zwei Stunden Fahrzeit am Rio Barbate unterhalb der Kleinstadt Vejer, wo ich ein sechs Euro teures Bogadillo aß und einen Milchkaffee trank.
Warum räumt mir das Schicksal offenbar immer im rechten Moment den Weg frei? Die Frage habe ich mir schon so oft gestellt. Die Antwort ist einfach. Es räumt den Weg gar nicht frei. Die Strecke Tarifa-Vejer ist seit jeher flach. Der Wind weht hierzulande meist aus Südosten, wenn ich die schief gewachsenen Eukalyptusbäume richtig deute. Morgens sind spanische Straßen weniger stark befahren, als sonntagnachmittags. So einfach ist das. Nur die Unkenntnis dessen was vor uns liegt, lässt uns dem Glauben aufsitzen, Schicksale oder Götter meinen es gut mit uns, oder schlecht, wenn schließlich Ereignisse gegenwärtig werden, wie sie es stets tun ohne Rücksicht auf vermeintlich lenkende höhere Kräfte.
So kurbelte ich, angeblasen vom Südoster einige leichte Steigungen hinauf, die ich frühmorgens noch rein gedanklich bei Gegenwind in kolonnenweise LKW-Dieselrußqualm hinaufkeuchte.
Davonbrausrausch. Weiter weiter weiter, am kleinen Finger imaginär wie ein quengelndes Kind das Jetzt haltend, das mir die ganzen Wochen treu den Weg leitete, aber mein Hirn war längst am Flughafen, löste die Schrauben am Radel, packte es in eine Box, entsorgte all die unnötigen Gegenstände und befestigte den Rest mit Klebeband und Kabelbindern am Rahmen, schätzte das Gewicht des Handgepäcks, quetschte den Inhalt von vier Packtaschen in eine einzige.
Der Körper durchradelt weites, grünes Hügelland. Weideland und Gerstefelder, die wohl schon in einem knappen Monat erntereif sind. Man könnte sagen, hier verpasst man nichts, wenn man einfach so durchrauscht, aber man könnte auch sagen, man verpasst immer etwas, wenn man sich bewegt, wenn man nicht innehält und dann kommt die höchstrichterliche Instanz in einem, die da sagt, es ist dem Jetzt völlig egal, ob du dich bewegst oder stillstehst, ob du den Blick, ach was, alle Sinne, nach außen richtest oder nach innen, Hauptsache ist doch, du bis da wo du bist, dich bewegend oder stillstehend oder dich stillstehend bewegend oder dich bewegend stillstehend. Das Leben, eine Frage des Feingefühls und eine Frage des wie halte ich mir das Hadern um die verpassten Situationen am besten vom Hals? Denn ist es nicht so, dass man immer etwas verpasst und nie etwas verpasst im gleichen Atemzug, also nur eine Frage der Einstellung? Sobald du dich in den Verpassensmodus begibst und eine zweite, dritte Spur des Daseins in dir erzeugst, beginnt auch das Unwohlsein. Eine geradezu minimalautistische Handelns- und Fühlsweise, wenn man das so sagen kann.
Alles in allem war der rennende gestrige Tag ein wunderbarer Radeltag. Auf einer Picknickbank döste ich um die Mittagszeit eine halbe Stunde, briet in der Sonne, bis eine Windböe das Radel zu Boden riss, ich erwachte, es aufrichtete, die Einzelteile, die aus den Packtaschen gefallen waren (Greenhorn, Monsieur, Greenhorn), wieder einräumte, alles festzurrte, weiterradelte, einen Funken meines Seins mit der Frage zurückließ, ist womöglich beim Sturz etwas aus den Packtaschen gefallen, das ich übersehen habe, das nun da liegt, bis es vergeht, bis jemand anders es findet, ein USB-Stick mit Sicherungen, der Geldbeutel … ruhig Irgend, ruhig … alles, was du besitzt darfst du verlieren. Ach was, alles, was du besitzt wirst du auch verlieren. Sogar dein eigenes Ich wirst du verlieren irgendwann. Nichts wird übrig bleiben.
Bei jedem Halt, bei jeder windigen Rast, in der das Radel umfiel, brach etwas ab, büßte ich einen Teil der komplexen Mensch-Fahrrad-Kunstmaschine ein. Mit jeder Radumdrehung ließ ich Gummi auf Europas Straßen, atmete den Schmutz der Gegend, stoffwechselte ihn, schied ihn wieder aus. Dachte Gedanken, zu denen mich der Moment, das Jetzt inspirierte. Ich bin keine Mensch-Radel-Kunstmaschine, ich bin eine Vergänglichkeitsmaschine. Ein tierisches Opfer, eine Art Karnickel, das von der großen Weltenschlange gefressen wurde und das sich durch ihren langen, einfachen Körper bewegt, ein Kloß, der nach und nach verdaut wird, bis nichts mehr von ihm übrig ist.
Vorbei an Medina-Sidonia, das auf einem Hügel liegt, führt die Strecke auf halbwegs passablen Landstraßen weiter Richtung Norden. Siebzig, achtzig, hundert Kilometer weit. Stierland. Torros auf grüner Wiese. Mal auch Ziegen. Wenn an den Stacheldrahtzäunen ein Schild mit der Aufschrift ‘Peligroso – Gefahr’ hängt, sollte man vorsichtig sein. Mit spanischen Stieren ist nicht zu spaßen. Korkeichen, deren Stämme bis zwei Meter Höhe geschält sind. Lieblich wird das Land. Auf den Höhen hunderte Windräder. Am Abzweig San José raste ich eine Weile und beobachte den Verkehr. Es gibt einen Campingplatz in Arcos an einem Stausee, etwa 15 Kilometer entfernt und einen in San José, rechts ab, fünf Kilometer gegen den Wind.
Beide Straßen gleich stark befahren, also ächze ich nach San José, kaufe ein, frage nach dem Camping, erfahre, dass er weitere fünf Kilometer außerhalb liegt Richtung Arcos. Schöne, kaum befahrene Hügelstraße.
Der Platz ist geschlossen. Verflixt. Und ich habe vergessen, Wasser zu fassen fürs eventuelle Wildzelten, also laufe ich runter zu dem Camping-Restaurant, vor dem ein Auto steht, um wenigstens Wasser zu fassen. Vielleicht kann ich sogar ausnahmsweise aufs Platzgelände? Ein Mann mit Hund. Führt mich zum Wasserhahn. Der Platz der Gemeinde hat wohl nur wochenends auf, meine ich zu verstehen, er müsse telefonieren und schon ruft er die Platzwartin an, ob ich ausnahmsweise und überhaupt, es gibt auch Hütten, willst du nicht Hütte, die Platzwartin kommt in einer Stunde und so warten wir vor der Rezeption, er, der Hund und ich, Hütten kosten zwanzig Euro, Zelten zehn, was für eine Rechnung … genug Zeit, nachzudenken, wie ich weitermache. Eine Nacht oder zwei? Am nächsten Tag im vorhergesagten Regen und Sturm nach Jerez radeln und irgendwie beim Flughafen unterkommen, in ein Hotel, oder zwei Tage hier, gammeln? Die innere Münze ist längst auf Hütte gefallen, und als zwei weitere Muchachos auftauchen und schließlich noch die Muchacha an der Rezeption, bin ich plötzlich als einziger, umhätschelter Gast gut aufgehoben, buche die zweite Nacht in der Hütte, insgesamt vierzig Euro und stelle die Gedanken, wie ich die vierzig Kilometer zum Flughafen zurücklege erst einmal zurück.
Sie machen eine Hütte klar, die Nummer zwei, in der sechs Leute Platz hätten, geben mir Bettwäsche.
Pechschwarze Nacht. Ein paarmal wache ich auf, weiß nicht, wo ich bin. Das Notlicht im Chalet hat sich eingeschaltet. Dafür funktioniert das Hauptlicht nicht. Wahllos tippe ich die Schalter und plötzlich ist das Notlicht über der Schiebetür an der Veranda aus, aber die komplette Straßenbeleuchtung hat sich eingeschaltet. Das Licht funktioniert auch wieder. Wenn ich in einem Horrorfilm wäre, perfekte Stimmung, wie der aufdrehende Wind die Wellen unsichtbar an den Strand klatscht und leichte Regentropfen den Weg finden bis zur Glastür und im Hirn die Gewissheit herrscht, hier ist niemand im Umkreis von vier fünf Kilometern, nur ich, das Radel, der Wind und der Stausee … ich schlafe wieder ein. Ich mag Horror, wenn ich mit ihm spielen darf im eigenen Kopf, wie mit einem winzigen, keifenden spanischen Köter.
Der Morgen erwacht trüb. Bis halb elf habe ich geschlafen. Aus der Homebase erhalte ich die traurige Botschaft, dass der Europenner-Server abgestürzt ist. Keine Verbindung zur Datenbank möglich. Und irgendwie passt das ja in mein Bild der Auflösung oder des Übergangs. Keinen Tag zu früh ist unsere Kommunikationszentrale down (besser wäre, der Server hätte bis übermorgen durchgehalten, klar).
Übers Handy logge ich mich ins Backend ein und versuche, das Ding zu reparieren, scheitere, übergebe das Problem meinem Cousin, der sowieso viel mehr Ahnung von der Materie hat und lehne mich in der zugigen Bude entspannt zurück.
Alles löst sich auf. Das Fahrrad, das Zelt, meine Kleidung sind nur noch Lumpen und Schmutz. Lumpen und Schmutz, die zwar noch funktionieren und sicher noch einmal dreitausend Kilometer überstehen würden, aber ja, die Härte der Tour hat an allem genagt, außer an meinen Nerven (da nur temporär berghoch bei Regen gegen den Wind). Alles ist in bester Ordnung.
Mit dieser Reise geht eine Trilogie zu Ende. Ums Meer 2012, Ans Kap 2015 und Gibrantiago jetzt sind die Rohdaten für eine Europenner-Trilogie. Ich kann endlich beruhigt heimkehren und auch da bleiben und mich auf ein Leben als Schriftsteller freuen. In Gedanken fabuliere ich, dass mit diesen drei Reisen und den Kunstfotos daraus auch fast schon ein kleines Lebenswerk fertig geworden ist.
Ich bin sehr zufrieden.
(Erstmals gebloggt am 19. April 2016 auf Irgendlink-Wordpress)