Die Straße nach Gibraltar #Gibrantiago

Manchmal ist es schwierig, die ersten Worte für einen Blogartikel in diesem live geschriebenen Buch zu finden. Beginne ich mit dem Wummern nördlich des Zelts, das irgendwann nachts begann und sich so anhört, als würde ein Bundeswehrhubschrauber Übungen durchführen, alleine, es fehlt das unruhige Hin und Her in der Luft? Oder mache ich einen Ausflug in die Vergangenheit und erzähle von meinem ersten Ebrodeltaerlebnis, jener Nacht nahe Deltebre direkt am Fluss, als wir von einem Rascheln unter dem Zelt geweckt wurden und als wir nachschauten, entpuppte sich das Tier, es ist dringend zu empfehlen, es sich als putzige kleine Maus vorzustellen, als langsam aus seinem Loch kriechender Hummer (oder Flusskrebs, was weiß ich), müde ging er auf die Jagd.

Gestern habe ich auf Twitter einmal versucht, die Geschichte meiner Gibraltarreisen zu rekonstruieren. Ich erinnerte mich, dass ich die erste ‚Expedition‘ alleine startete. Kurz nach dem Zivildienst in einem nebligen November in der Nordpfalz. Ich hatte die Taschen voller Entlassungsgeldmillionen, und vier Monate Zeit, um mein unterbrochenes Studium wieder aufzunehmen (damals gab es noch die Wehrpflicht/Zivildienst, der Kalte Krieg lag in den letzten Zügen).

Als ich im kleinen Nordpfalzdorf bei dichtem Nebel startete, schimpfte mich eine alte Frau voran mit den (mehr zu sich selbst, aber laut genug gesprochenen) Worten ‚Der spinnt doch‘.

Die Reise ging als meine kürzeste Langstreckenradtour aller Zeiten in die Geschichte ein. Schon am Abend rief ich meine Mutter an und sie holte mich mit dem Familienkombi in der Südpfalz wieder nach Hause. Die Vorweihnachtszeit lässt die Menschen kollektiv nähebedürftig werden, schürt den Wunsch nach warmen Öfen, Lichterglanz, Harmonie, Frieden und Heimeligkeit. Damals konnte ich mich diesem Stimmungsmainstream nicht entziehen und auch heute würde es mir schwer fallen, in die Weihnachtszeit hinein eine eiskalte Radelexpedition alleine zu starten.

Im Januar 1990 startete ich den nächsten Versuch. Ich weiß noch genau, wie ich am dritten Tourtag mit meinem peruanischen Zimmernachbarn den Frühstücksraum der Jugendherberge Kehl betrat und der Jugendherbergszivi uns mit den Worten ‚Es ist Krieg‘ begrüßte.

Die Reise führte via Breisach nach Basel und von dort per Zug nach Genf, auf erbarmungslos kalten französischen Landstraßen ins Rhônetal über Vienne bis ans Meer. Den Via Rhôna Radweg gab es vor 26 Jahren noch nicht. Ich radelte über die ehemalige N86 auf der rechten Rhôneseite, die wenig befahren war.

Im Starkregen jagte mich ein Rudel Hunde nach Sète, wo ich versuchte, eine Fähre nach Marokko zu kriegen, um dem Wetterelend zu entrinnen, scheiterte und mich in der Jugendherberge einquartierte. Die Tour wäre an diesem Tag zu Ende gewesen, wenn nicht zwei weitere deutsche Radler dort einquartiert gewesen wären. Krüger und Leb, mit einem ähnlichen Vorhaben, die auch versucht hatten, eine Fähre nach Marokko zu finden. Dabei hatten sie die Rezeptionsöffnungszeit verbummelt und mussten einen Tag länger bleiben. Nur so konnten wir uns kennenlernen. Wir verstanden uns auf Anhieb. Mit Leb bin ich noch immer befreundet.

Gemeinsam radelten wir an der Küste weiter und schaffen es bis kurz vor Castellon. Dort tobte ein mehrtägiger Sturm. Zwei Tage lagerten wir in einer Bauruine. Als wir weiterradelten, hatte Krüger einen massiven Hinterradschaden. Sturmumtost und beregnet standen wir am Straßenrand und es schien keine Hoffnung zu geben, dass wir ohne Schieben weiterkommen. Leb hielt den Daumen raus. Das erste Auto stoppte. Ein Kleintransporter, am Steuer eine Englischlehrerin und ihr Mann. Sie packten uns samt Rädern ins Auto und brachten uns zum Bahnhof in Castellon.

Wetter und Panne hatten uns so arg zugesetzt, dass wir die Reise in Castellon beendeten. Krüger und Leb trampten zurück und ich nahm wieder das Taxi Mama und Papa in Anspruch, das nahe Calpe in einer Ferienwohnung auf mich wartete.

In den 1990er Jahren gab es noch einen weiteren Versuch, nach Gibraltar zu radeln, gemeinsam mit meiner Freundin I. Es muss in einer Weihnachtszeit gewesen sein, entweder 1990/91 oder 1992/93? Ich erinnere mich, dass wir nach dem ersten Tourtag mit völlig verschlammten Schuhen auf dem Weihnachtsmarkt in Speyer drei Bettlern begegneten, die auf uns einredeten, ‚könnt ihr doch nicht machen, mit solchen Schuhen hier auftauchen, die Schuhe sind das Wichtigste‘, wie drei Heilige aus dem Morgenland kamen sie mir vor. Diese Reise endete in Peñiscola. Mit in Mülltüten als Handgepäck verpackten Fahrrädern kehrten wir per Zug zurück nach Basel.

Ab dem Jahr 2000 hatte ich meine Reisegewohnheiten geändert und die Kunst hatte Einzug gehalten im Hause Irgendlink. Das Ziel war nicht mehr so wichtig, sondern die Kunstproduktion unterwegs und der Genuss. Unter dem Stichwort ‚Zweibrücken-Andorra‘ sind zwei Reisen im Internet dokumentiert, die auf wenig befahrenen Departementsstraßen Frankreich von Nord nach Süd durchqueren. Der Weg wurde in zehn Kilometer Abständen als sogenannte Kunststraße dokumentiert, so wie es auch auf der jetzigen Reiseroute der Fall ist.

Gerade stoppe ich das schwer bepackte Reiserad. Der Wind steht schräg gegen mich aus Süden. Die Sonne brennt. Eine Kette hölzerner Strommasten links der Straße führt das Auge streng Richtung Horizont. Die Leitungen summen im Wind. Die Luft ist schwer und sie schmeckt nach Salz und nach Kräutern und nach Blüten und es ist ihr ein bisschen Staub beigemischt, den ein Traktor fernab in den hellbraunen Äckern aufwirbelt. Hellblau und braun sind die dominanten Farben. Ab und zu hebt sich ein Haus, das nächste Dorf, El Muntell, ist nur schemenhaft zu erkennen. Hier gibt es eigentlich nichts, als Horizont, Himmel, Erde und mittendrin ich, so verloren, so verbissen die Kunststraße fotografierend. Um die 240 Mal schon habe ich in zehn Kilometer-Abständen das Radel gestoppt, um die Straße zu fotografieren, genau wie Google das 1995 von mir abgeguckt hat und das System mittels millionenschwerer Technik perfektioniert hat. So denke ich manchmal, wenn ich über die Kunststraßenfotografie nachdenke. Ich habs erfunden und Google hat es im Netz entdeckt und nachgemacht. Aber das stimmt wahrscheinlich nicht. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Idee so normal ist, dass auch andere Leute darauf kommen, wie ich sowieso denke, dass Ideen ihre Zeit finden und dann gedacht werden und dann realisiert werden und dass es viele verschiedene Menschen sind, die zu ähnlicher Zeit ähnliche Ideen haben, weshalb, so mein trauriger Rückschluss, das Urheberrecht eigentlich kleingeistiger Quatsch ist, denn Ideen, die kollektiv in verschiedenen Köpfen entstehen, könnten auch verschiedene Wachstumsformen ausbilden. Das heißt, wenn per Menschengesetz einer als Urheber einer Idee bestimmt wird, wird allen anderen, die eine ähnliche Idee haben (oder eine Idee weiterentwickeln wollen) das Wachstum ihrer Idee untersagt.

Okay, es ist natürlich auch ein Problem, dass es genügend Ideendiebe gibt. Übel im Kerngehäuse des Menschseins.

Ich schweife ab. Hinter dem Traktor hat sich eine Schar weißer Vögel versammelt, die die frisch aufgerissene Erde nach Nahrung durchwühlen. Vorne links zeichnet sich ein Wäldchen ab. Ist das der berühmte Eukalyptusstrand,von dem mir gestern der Berner Radler Stefan erzählte, er sei eine Mogelpackung, den Eukalyptusstrand gibt es gar nicht, da stehen nur ein paar Bäume und es ist viel Sand dort?

Noch fünf Kilometer bis dahin.

Die Reiseroute habe ich morgens spontan geändert, eigentlich könnte ich schon längst Richtung Castellon unterwegs sein, aber ein Radwegschild lockte mich ab Tortosa ins Ebrodelta. Ich bereue das nicht. Der Radweg führt über geteerte Feldwege in einem Zickzack-Kurs bis zur Ebromündung. Die Gegend ist wunderschön. Schon stelle ich mir vor, dass auf den Feldern bald Reis wachsen wird, dass sie sie irgendwie fluten, quadratkilometerweit, aber wie das vonstatten gehen soll, kann ich mir nicht vorstellen, da ereicht mich per Twitter eine Botschaft von @RecumbentTravelling, er sei 2004 hier durchgeradelt und überall wuchs Mais.

Ich könnte fragen, was hier angebaut wird. Am Eukalyptusstrand steht jedenfalls ein Schneckenpumpwerk, mit dem man gewiss etliche Tonnen Wasser abpumpen könnte.

Der Eukalyptusstrand erweist sich als die Mogelpackung, die mir Stefan prognostiziert hatte. Es gibt eine Urbanisation, eine Feriensiedlung, und einen Campingplatz, der tatsächlich von Eukalyptusbäumchen bewachsen ist. Aber der kilometerweite Strand, an dem die Bäume haushoch bis ans Wasser wachsen, der in meiner Vorstellung existierte, platzt mit unhörbarem Pöff.

Der Strand ist trotzdem großartig. Hunderte Meter breit, zig Kilometer lang. Zwei fahrbare Pisten sind angelegt, auf denen sich monströse Vierradfahrzeuge tummeln. Blechgewordene Männerphantasien mit hochgelegtem Luftansaug zum tief ins Wasser fahren und sie tummeln sich wie junge Hunde, balgen sich, fahren Rennen, ziehen Kreise, malen Spuren im Sand. Das spanische Männlein in Action.

Auf dem Camping quartiere ich mich trotz des hohen Preises von 24 Euro ein. Der Platz steht in vollkommener Kapitalisierung. Es gibt nichts, was nichts kostet. Strom am Platz 4,10 Euro, einmal Handy an der Rezeption laden siebzig Cent, fehlt noch, dass man am Handwaschbeckenföhn Münzen einwerfen muss, oder sich für einen Cent pro Blatt Klopapier aus einem Automaten ziehen kann.

Ich kaufe mich frei. Einfach um mal wieder einen Tag Ruhe vor Hunden und Lagerplatzsuchstress zu haben. Duschen und Waschen wäre auch nicht übel.

Und der Hubschrauberlärm? Es könnten Fischerboote gewesen sein. Nun herrscht jedenfalls Stille.

Tag #38 – Infos aus der Homebase

Ein Tag in Bildern? Gerne! Zumal bei diesem Bilderbuchwetter. Die Sonnenkollektorenhandyladung ist gesichert. Dennoch braucht auch die Nikon mal wieder eine Volltankung ab Steckdose. Drum und überhaupt und weil auch eine Dusche mal wieder gut tut, hat sich Irgendlink heute auf dem Camping am Eukalyptus-Strand eingebucht. Und mal wieder Sockenwaschen kann ja auch nicht schaden.

Tortosa von der Radwegbrücke
Außerhalb Tortosa Namensschild vor einem ‚Mas‘, einem Hof.
Graffiti nahe L’Aldea
Ebrobrücke in Deltebre. Die linke Hälfte der Brücke ist für Radler und Fußgänger mit Parkbänken.
Viel Weite im Ebrodelta. Ein Genuss, auf kaum befahrenen Straßen zu radeln.

Zum heutigen Track bitte hier ⇒ klicken. (Wegen Netz-Unterbrüchen kann die angezeigte Totallänge vom real gefahrenen Wert abweichen.).

Zur klassichen Version der heutigen, ungefähren Etappe bitte hier ⇒ klicken.

Perspektive #Gibrantiago

Dunkelheit. Kühle Luft. Die Wände werfen das monotone Rattern der Kette zurück. Ich pfeife. Die Reifen machen ein Geräusch, als würde man mit hoher Frequenz Luftpolsterfolie zerquetschen. Der Radweg ist nicht gerade superglatt geteert, aber von dem, was ich bisher in Spanien an Radwegen erlebt habe, hebt er sich angenehm ab. Kilometerweit schon radele ich durch eine unglaublich schöne Landschaft, die von Gebirgszügen eingerahmt wird. Kahle, hellbraune bis graue Felsen mit Tupfern aus Pinienwäldern, davor sattes Frühlingsgetreidegrün, dann wieder terrassenartig angelegte Olivenhaine und auch erste Orangenplantagen mit glänzenden aufdringlich grünen Blättern. Manche der etwa zwei Meter hohen Bäumchen tragen Orangen, andere Blüten, an wieder anderen hängt nur noch die ein oder andere Orange und der Rest liegt, aus unerfindlichem Grund, unterm Baum auf dem Boden.

Die Via Verde im Val de Zafán, ich weiß gar nicht mehr, wann ich erstmals von ihr gehört habe, es ist bestimmt fünf Jahre her, und seither träume ich davon, auf diesem alten Bahntrassenradweg zu radeln. Über Viadukte und Tunnel führt er von Tortosa hinauf nach Alcaníz, so zumindest sah das aus auf der Webseite, die ich einst anschaute. Gut achtzig Kilometer weit vom Meer Richtung Madrid.

In Valdeltormo beim alten Bahnhof stoße ich auf die Route und der erste Mensch, dem ich an dem verlassenen, alten, zerfallenen Bahnhof begegne ist Stefan, ein Schweizer. Er radelt eine Vuelta, sagt er, eine Radrunde, ist seit Barcelona hier in der Ebrogegend unterwegs, nein, das Ebrodelta zu besichtigen lohnt sich nicht, der Eukalyptusstrand ist eine Mogelpackung, da gibts nur einige wenige Eukalyptusbäume, enttäuscht er mich, und er spreche perfekt spanisch, aus Bern kommt er, war bis vor Kurzem Eisenbahningenieur und nun ist er in Rente.

Wir verabschieden uns, treffen uns später wieder, an einem weiteren verlassenen Bahnhof. Ein paar Picknickbänke stehen da. Sonst herrscht Stille. Ab und zu andere Radler. Ein Mann aus den Pyrenäen, der nach Malaga radelt, mit viel Gepäck. Ich zeige Stefan ein paar Blätter, die ich im alten Bahnhof von Fabara mitgenommen hatte. Zu hunderten lagen sie in der alten Lagerhalle, in die man eingebrochen und alle Möbel und Regale zertrümmert hatte und die Wände mit Graffities verziert. Das Blatt ist von 1976 und es sei eine Anweisung, wie man mit Fracht zu verkehren habe, erklärt mir Stefan.

Zwei Männer mit quietschgelben Warnwesten ackern von der Küste herauf. Beeindruckende Räder. Stefan ist sofort Feuer und Flamme für die Technik. Roloff-Nabenschaltung, Titanrahmen und SOLCHE Schlappen. Die Bereifung ist auf alle Fälle besser spaniengeeignet, als meine 28 Zoll-Kümmerlinge. Dennoch, ich darf nicht klagen.

Die beiden kommen aus Belgien. Wie wir den reden sollten, fragt Stefan, französisch wäre besser, sagt der eine Belgier und Stefan redet munter weiter auf Deutsch auf die beiden ein, beäugt die Fahrradtechnik, die voluminösen superwasserdichten Packtaschen, während ich danebenstehe und einfach nur staune ob des plötzlichen Reiseradleraufkommens. Viele Tunnel gebe es da unten, sagen die Belgier und sie zeigen ihren Reiseplan, der sie von Girona am Meer entlang hierher geführt hat und durchs Landesinnere nach Malaga lotst, wo sie am 20. April ihren Rückflug haben. Die beiden haben gezielt einige Vias Verdes in die Tour eingebaut, unter anderem die wohl längste, die in der Stadt Jaen beginnt und bald hundert Kilometer lang ist, wenn ich mich recht erinnere.

Die Val de Zafán mündet nach etwa dreißig Kilometern in die Via Verde del Terra Alta, die am Ebro in die Via Verde Baix Ebre mündet. Alles klar?

Im Grunde handelt es sich um eine einzige alte Bahntrasse, die einst gebaut wurde, um die Kohleminen im Landesinnern mit dem Meer zu verbinden.

Ich folge der Trasse bis fast nach Tortosa, wo sie offiziell endet. Und erlebe eine der wohl atemberaubendsten Radlerstrecken, die ich jemals gereist bin. Versuchte ich anfangs noch, die Tunnel zu zählen, die man durchradelt und die Viadukte, muss ich nun im Nachhinein schätzen, dass es etwa vierzig Tunnel waren und vielleicht dreißig Viadukte auf den gestrigen siebzig Kilometern. Die Tunnel sind bis knapp einen Kilometer lang. Ich schätze, dass ich unter Tage etwa acht Kilometer verbracht habe.

Und der Clou an dem Ganzen, ich habe ein wuchtiges, unzugängliches Gebirge durchradelt, fast ohne Steigungsmeter.

Mein Tagesziel, im Ebrodelta am Meer einen Campingplatz zu erreichen, opfere ich gegen 19 Uhr der Gemütlichkeit und schlage mein Zelt in einem brachliegenden Grundstück in der Nähe des Ortes Jesús auf.

Ich bin trotz aller Reiseroutine etwas aufgekratzt und vermute, dass ich zu schnell bin. Ich erinnere mich, dass ich auf dem Weg ans Nordkap letzten Sommer auch so eine Phase hatte, in der ich drängte und drängte und auf teufelkommraus vorankommen wollte, Strecke machen, Kilometer fressen, mich selbst unter Druck setzte. Und dabei das Gegenwärtige verkommen ließ.

Damals habe ich absichtlich einen Umweg gemacht, bin von Kalix weiter zur Ostsee gefahren, habe im vielleicht nördlichsten Ostseehafen Schwedens eine wunderbare Nacht neben dem Hafengebäude verbracht. Aber damals war doch alles anders, oder, ich hatte Zeit ohne Ende, oder? Hier sitzt mir der knappe Rückflugtermin im Nacken … halt, halt, halt, Herr Irgendlink, vergiss nicht, auch damals saß dir der knappe Rückflugtermin im Nacken, nichtwahr?

Das Verflixte an Terminen ist: wenn man sie erreichen will, denkt man, man habe zu wenig Zeit und wenn man zurückblickt auf einen erreichten Termin, dann hat man immer genug Zeit gehabt.

Alles ist im Kopf.

Schon bin ich heute Morgen auf gnadenlosem Südkurs. Vorbei an Tortosa über ruhige Landstraßen habe ich meinen Weg geplant bis zum Beginn eines weiteren mutmaßlichen Radwegs bei Ulldecona, nur etwa dreißig Kilometer bis dahin, und wenn ich es gut mache, kann ich heute schon in Castellon am Meer sein.

Ich trödele durch Jesús. Betrachte den riesigen Eukalyptus, der auf der Landkarte als Naturwunder ausgezeichnet ist. Er steht ganz in der Nähe der Kirche, vor dem Gemeinschaftsplatz, der an diesem Sonntag noch leer ist. Ein Motorradfahrer sitzt in einem Café, Sonntagsstille. Ich irre umher, radele weiter meinem Weg folgend, bis ich wieder auf die Via Verde Baix Ebre treffe und aus einem Impuls heraus ihr folge rüber auf die andere Ebroseite, ab vom Südkurs, vorbei an einem Flüchtlingsheim. Zig Menschen sitzen gestrandet am Radweg, tanken Sonne, verdrossene Gesichter, beraubt um jedwede Lebensperspektive. 

Perspektive, ist es nicht das, was uns Menschen antreibt, denke ich immer wieder. Nicht Geld und Besitz, sondern eine Aufgabe, die einen nährt. Für Essen und Unterkunft ist ja schnell gesorgt, aber das Wichtigste ist doch, dass man sich eine Zukunft zurechtdenken und einer erfüllenden Aufgabe nachgehen darf. Aber was hast du, wenn du ein Flüchtling bist? Versorgt wirst du ja halbwegs, aber es fehlt die Perspektive.

Was hab ich es doch so gut. Ich radele, schreibe darüber, halte alle zehn Kilometer an und mache ein Foto der Strecke. Eine ganz einfache, selbstgebastelte Perspektive, die mich antreibt, die mich nährt, schon bin ich über die nigelnagelneue Fahrradbrücke auf der nördlichen Ebroseite und beäuge die Schilder, ich kann mir diese Perspektive nur aufbauen, weil ich in einem friedlichen Land lebe, Deltebre steht auf einem der Schilder. Das ist Perspektive pur für den Reisekünstler. Ein Radwegschild, das über Wirtschaftswege entlang von Kanälen und durch Felder hindurch links, rechts, geradeaus, immer weiter leitet, so gelange ich schließlich an diesen Ort, an dem ich auf einer Parkbank diesen Artikel schreibe. 

Eine Eremitage nahe L’Aldea, ein Picknickplatz ist hier. Es gibt Wasser. Kaum Autos fahren vorbei. Ab und zu ein Fußgänger und man kann den Torre de L’Aldea besteigen, ein vielleicht zwanzig Meter hoher Steinturm. Einen wunderbaren Blick über das flache Schwemmland hat man von da oben.

Tag #37 – Infos aus der Homebase

»Es ist mir doch tatsächlich gelungen, eine halbwegs radelbare Verbindung von Olot hierher zu finden,« freute sich Irgendlink heute Morgen auf Twitter.

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In Valdeltormo

In Valdeltormo trifft Irgendlink auf die Via Verde de la Val de Zafán und schreibt begeisterte Tweets und SMS über diesen klasse Bahntrassenradweg.  Der Vorteil einer verlassenen Bahnlinie: Die Strecke ist relativ eben. Zudem findet er unterwegs viele zerfallende Bahngebäude, die sein Fotografenauge begeistern. Auch die  Landschaft ist exorbitant.

Landschaft Via Verde
Landschaft unterwegs auf der Via Verde
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„Ich trank einen Kaffee im Bar-Zug in Bot“
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„Ich hab etwa vierzig Tunnels durchquert zwischen ca. hundert Meter und einem knappen Kilometer lang. Meist waren sie beleuchtet (per Bewegungsmelder) und der Strom kam vermutlich aus Solarzellen. Jedenfalls hingen über den Tunneln Solarzellen.“
Ebro
Ebro
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Auf der ‚Baix Ebre‘

Etwa siebzig Kilometer auf einer gut ausgebauten Via Verde ist Irgendlink heute geradelt. Nun ist er unterwegs vom Val de Zafán auf die Terra Alta und campiert etwa acht Kilometer vor Tortosa.

Weitere Infos über die Via Verde de la Val de Zafán gibt es hier: bitte ⇒ klicken.

Zum heutigen Track bitte hier ⇒ klicken. (Wegen Netz-Unterbrüchen kann die angezeigte Totallänge vom real gefahrenen Wert abweichen.).

Zur klassichen Version der heutigen, ungefähren Etappe bitte hier ⇒ klicken.

Zur Via Verde-Karte: bitte hier ⇒ klicken.
Irgendlinks Route auf dieser Karte eingezeichnet: bitte hier ⇒ klicken.

Circulum Felicidia #Gibrantiago

Achtuhrperversrüh. Als ich diese seltsamen Maschinen, die wie ein Düsentriebwerk aussehen und hinter Schmalspurschleppern durch die Obstplantagen gezogen werden, um weitläufig Gift auf die Bäume zu sprühen zum erstenmal beschrieben habe und sie – wegen ihres Aussehens – mit Flugzeugdüsen verglich, konnte ich ja nicht ahnen, dass sie auch so klingen. Insbesondere, wenn sie direkt neben dem Europennerzelt eingesetzt werden. Was für ein Gejaule. Das Nachtlager ist eigentlich in allerbester Lage unweit des Dorfes Granja, dort wo der Rio Segre mit einem anderen Fluss zusammenkommt, in einem brachliegenden Grundstück mit jahrelang ungepflegten Obstbäumen. Auch ein Orangenbaum steht direkt neben dem Zelt. Das Gras ist nicht zu hoch und ganz wichtig: durch den wilden Bewuchs ist der Platz gut geschützt gegen Wind und Blicke. Nun heult die Giftdüse. Kann ich nicht eiiinmal einen Rundum-glücklich-Tag erleben?

Okay, wach war ich ohnehin, aber ich hätte gerne noch ein bisschen im Zelt gebummelt, geschrieben, Datensicherung, und ach, das Postkartenprojekt. Aber bei dem Lärm breche ich ungefrühstückt auf.

Und bin wieder einmal überrascht, wie plötzlich sich die Gegend ändert. Aus dem hässlichen Obst-Flachland um Lleida wächst ein gemütliches Flusstal. Die Straße ist kaum befahren. Der Teer ist glatt. Man kann nicht darauf setzen, dass geteerte Straßen in Spanien sich auch gut fahren. Manchmal hat man Huckelpisten unter den Reifen, da ist ein sandiger Waldweg um Klassen besser.

Nach einer knappen Stunde steuere ich auf Menquinenza zu, wo ich, das Wort Frühstück auf spanisch mantrisch vor mich hinmurmelnd, Desajuno, Desajuno, Desajuno, mir ein kleines Restaurant am Fluss, abseits der Straße vorstelle, in dem hoffentlich nicht der normalerweise übliche Fernseher läuft und ich gemütlich frühstücken kann. Tostados wären gut, viel Kaffee, vielleicht ein Ei. Nichtraucher.

Angler sitzen alle paar Meter am Fluss. Ein Wohnmobil mit Neunkircher Kennzeichen kommt mir entgegen. Da ein Campingplatz. Knittels. Klingt nicht gerade spanisch. Davor eine Tafel, auf der geschrieben steht Frühstück bis 10:30. Auf Deutsch. Gibt’s  doch garnicht. Ich betrete das Restaurant und die Besitzerin begrüßt mich mit akzentfreiem Guten Morgen. Sieht man mir das an? Auch die beiden Frühstücksgäste an einem der Tische sprechen deutsch. Heute ist erster April. Da stimmt doch was nicht. Wo ist die versteckte Kamera?

Ich frühstücke. Ausgiebig, wie man so schön sagt. Plötzlich, eine Touristengegend. Dies sei ein Anglerparadies, sagt die Besitzerin. Der Ebro staut sich bis hier herauf und einige Flüsse, die hier zusammenkommen bilden einen weitverzweigten, fischreichen See. Ihr Mann ist Angelguide. Sie sind vor vier Jahren hierher ausgewandert.

Nach einem kurzen Stück Nationalstraße, das kaum befahren ist und den üblichen breiten Seitenstreifen hat, kurbele ich über die A-1411 dreiundvierzig Kilometer weit bis nach Maella und von dort über die A-1412 weiter Richtung Süden, mit dem Ziel, meine zweite, in die Tour eingeplante Via Verde, den Bahntrassenradweg im Val Zafhan zu erreichen. Beide Straßen sind kaum befahren, genauso, wie es in meinem Rundumglücklichplan aussieht, und sie führen durch eine wunderbare Gegend, natürlich wild, durchzogen von Obstplantagen. Also nicht ganz so streng privatbesessen und vernagelt wie die intensiv verschandelte Gegend um Lleida. Zweimal stoppen in der unwegsamen Gegend Autos und die Fahrer fragen, ob es mir gut geht. Fotografisch und denkerisch habe ich einen guten Lauf, arbeite an zwei Projekten, für die ich Bildmaterial sammele. Zum einen ist ja stets mein künstlerisches Alter Ego, Heiko Moorlander, im Gepäck, der Mudartist, der Schlammwühler, der mit seiner Kunst, Spuren per Traktoren und LKWs in der Erde zu hinterlassen, Millionen scheffelt, der alles hat, was ich nicht habe. 

Außerdem gibt es jede Menge verrottete Schilder am Wegesrand. Damit könnte man ein tolles Schilderbuch machen. Ich fotografiere sie einfach mal.

Siebzehn Uhr erreiche ich Maella. Siebzehn Uhr ist eine wichtige Zeit in Spanien. Dann ist die Siesta vorbei und die Geschäfte machen auf. In einem Supermarkt, die hierzulande kleine, dunkle, verwinkelte Etwasse mitten in der Stadt sind, kaufe ich ein paar Lebensmittel, fasse am Brunnen auf dem Marktplatz Wasser und fahre weiter weiter weiter. Die Via Verde ist schon in greifbarer Nähe, ich fotografiere Kunststraßenkilometer 2360, da sticht mir dieses Pinienwäldchen links der Straße neben dem ausgetrockneten Flussbett ins Auge. Leise säuselt einen Kilometer entfernt die Nationalstraße, die ich für drei Kilometer benutzen muss, um zur Via Verde zu kommen.

Warum nicht hierbleiben? In meiner Rundumglücklich-Allmachtsphantasie kommt ja auch dieses Pinienwäldchen vor, duftend, schützend, weich, in dem das Zelt so wunderbar aufzubauen wäre …

Nun, da ich dies schreibe, frage ich mich, worin das Geheimnis liegt, dass mir immer wieder die Dinge so passieren, wie ich es gerade benötige. Habe ich einen scheinbar nicht reparierbaren Schaden am Radel, treffe ich auf den besten Fahrradmonteur zwischen Andorra und Lleida und der zaubert auch noch ein Ersatzteil aus dem Hut, auf das andere Radler wochenlang warten müssen. Droht das Gemüt an Widrigkeiten zu brechen und es sollte ein Rundumglücklichtag her, zieht der große Weltenmagier ein schneeweißes Rundumglücklichkaninchen aus dem Hut … was heißt eigentlich rundum glücklich auf spanisch?

Tag #36 – Infos aus der Homebase

Heute hat Irgendlink zum ersten Mal von Wohlfühltag und Rundumglücklich-Modus geschrieben hat. Mich freut’s, zumal die letzten Tage doch eher beschwerlich gewesen sind – jedenfalls für einen, der sich in Ebenen und Weiten wandernd oder radelnd verloren fühlt.

Telefonieren konnten wir sogar auch, vorhin, wie fast täglich, aber für einmal nicht über Internet, dazu war der Empfang zu schlecht. Aber das gute alte Telefon gibt es ja auch noch.

Das erste Tagesbild heute ist nur winzig, aber besser als nix. Dafür hat Irgendlink einen supertollen Lagerplatz gefunden, direkt an einem ausgetrockneten Flusslauf. Und sein Tag war wirklich rundum klasse, sagte er eben.

vor Maella
Die Klosterruine kurz vor Maella
Das zweite ist schon ein bisschen größer, hat aber dafür auch ewig gebraucht, bis es die Homebase erreicht hat …

Hoftor in Maella
Hoftor in Maella
Zum heutigen Track bitte hier ⇒ klicken. (Wegen Netz-Unterbrüchen kann die angezeigte Totallänge vom real gefahrenen Wert abweichen.).

Zur klassichen Version der heutigen, ungefähren Etappe bitte hier ⇒ klicken.

Von Engeln und Wahrscheinlichkeiten #Gibrantiago

Was für eine schlimme Gegend. Seit zig Kilometern radele ich durch hügliges, monotones Flachland auf einer Straße mit meterbreitem Standstreifen, die mäßig bis erträglich befahren ist. Die Sonne kommt ab Balaguer, wo ich eine Mittagspause vor einer Neubauruine mache, langsam durch, es ist warm, die Welt ist eigentlich schön und ich dürfte mich über das bisschen Kargheit gar nicht beschweren. Hinter mir in der Ruine steht noch ein Kran, auf dessen Ausleger einige Storchennester sind. Die Tiere klappern und fliegen permanent ein und aus mit Nestmaterial im Schnabel oder Nahrung für die Jungen. Schnurgerade rauscht der Fluss durch die Stadt. Ich glaube, er heißt Segre.

Über die C 12 auf der rechten Flussseite radele ich weiter gen Lleida. Durch die recht große, aber irgendwie unheimlich stille Stadt hindurch und mit jeder Pedalumdrehung häufe ich mehr Trostlosgefühl in mir an. Eine Einsamkeit wie in den letzten Tagen habe ich selten gespürt. Diese Reise ist um einiges härter, als die Reise letzten Sommer ans Nordkap und ich frage mich, woran das liegt. Vielleicht weil immer irgendwas hakt. Schnee und Kälte vor vier Wochen in den Vogesen, Regen und Großstadtgetümmel um Lyon, der Tramuntanawind nördlich der Pyrenäen, die Passfahrten zwischen Olot und hier waren dagegen ein Vergnügen. Lieber Berge und Stille, als Flachland und Hektik.

Da kommt es gerade recht, dass Frau SoSo in der Homebase den Flieger gebucht hat. Am 20. April muss ich also in Jerez de la Frontera sein und fliege mit Umstieg in Madrid zurück nach Zürich.

Südlich von Lleida gibt es um das Städtchen Aitona wenigstens ein bisschen Abwechslung. Felsen wie aus einem Wildwestfilm, bröckelige rotbraune Konglomerate, hinter denen man sich den Grand Cañon zurechtdenken kann oder das Tal des Todes, aber links von mir dieses ewige Obstbäumchenland, künstliche Bewässerung, Menschen, die mit Schmalspurtraktoren und düsenantriebähnlichen Giftgebläsen hindurchfahren, erste Blüten in weiß und in rosa.

Dazu Gegenwind. Staubwolken. Dieselruß. Nein, das tut nicht gut und es wird äußerst schwer, einen Zeltplatz zu finden. Campings gibt es in dieser Gegend nicht. Auf jedem Gehöft bellt ein Hund und der strenge Gegenwind erfordert eine bestimmte windgeschützte Zeltplatzlage.

Kilometer um Kilometer kurbele ich so dahin in einer Art demütig lethargischen Stimmung, ab und an versuche ich abseits ein Plätzchen zu finden, hinter den Mauern einer Klosterruine zum Beispiel, werde aber sofort von wie-aus-dem-nichtsen Hunden auf die Straße zurückgebellt, überlege in einem frisch gegifteten Obsthain zu zelten, oder ein Herbergs- oder Hotelzimmer … da tut sich dieses verlassene Grundstück kurz vor dem Zusammenfluss von Segre mit einem anderen Fluss auf, puuh. Ideal windgeschützt. Unweit des Städtchens Granja.

Wenn ich an den Flug denke, denke ich automatisch auch an Wahrscheinlichkeiten. Wie groß etwa die Wahrscheinlichkeit ist, abzustürzen. Ich hasse Fliegen. Eingedost mit hundertfünfzig Menschen, beschleunigt auf tausend Kilometer pro Stunde eine Strecke, die man wochenlang per Fahrrad erobert hat einfach so zurückzuspulen, wie Zeitraffer.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit von einem LKW überfahren zu werden? Im Straßengraben sieht man immer wieder Plastikflaschen mit gelber Flüssigkeit. Das ist Urin. Die pinkeln da rein. Während der Fahrt. Die essen am Steuer, sie telefonieren, lesen Zeitung, stemmen die Füße aufs Armaturenbrett und was man noch für Horrorzeugs von gelangweilten Fahrsklaven hört, die immer unter Zeitdruck unsere Waren durch den Kontinent karren.

Ich darf mich nicht beschweren. Bisher gab es keine kritische Situation und die meisten Auto- oder LKW-Fahrer nutzen, im Gegensatz zu denen bei uns daheim, die ganze Straßenbreite, um einen Radler zu überholen. Auch wenn er auf dem Seitenstreifen fährt.

Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, in dieser flachen windumtosten, behundeten, privtabesessenen Gegend einen windgeschützten Wildzeltplatz zu finden?

Aber was rede ich? Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein, wenn wir schon bei Wahrscheinlichkeiten sind. Eigentlich müsste ich jetzt in Oliana auf dem Campingplatz die Zeit totschlagen und abwarten, bis mein Ersatz für das gebrochene Schaltauge per Express aus Deutschland geliefert wird. Denn die Wahrscheinlichkeit, in Oliana oder in der Umgebung eins zu kaufen, das genau passt, war wohl kleiner, als die, im Lotto zu gewinnen. 2500 verschiedene Schaltaugen gibt es. Winzige Alustückchen mit Löchern drin, die am Fahrradrahmen festgeschraubt werden und als Sollbruchstelle fungieren, falls die Schaltung sich mal verhakt, so wie bei mir. Dann ist wenigstens nicht der ganze Rahmen im Arsch, haben sich kluge Ingenieure wohl gedacht.

Vorgestern fabulierte ich also erst einmal darüber, wie schlimm die Situation ist und hatte mich schon mit einer Woche Zwangsferien in Oliana abgefunden. Ich wollte zur Autowerkstatt, die man mir empfohlen hatte, und mir das Ersatzteil an die dortige Adresse bestellen, falls sie das kaputte Teil nicht schweißen oder durch ein selbstgeschnittenes und gebohrtes ersetzen können. Den Weg zur Werkstatt hatte man mir abends schon erklärt, dennoch verirrte ich mich und fragte einen Mann, der gerade in sein Auto stieg, wie ich zum Mechanico komme. Komm‘ mit sagte er (auf spanisch, wie in Piggeldy und Frederick), stieg in sein Auto, fuhr vor mir her, stoppte nach ein paar Ecken, klingelte an einem Wohnhaus. Es dauerte eine Weile. Die Balkontür ging auf. Ein verschlafener Mann stand da. Mein Frederick erklärte ihm die Sachlage. Er nickte, un Momento. Plötzlich, eine Tür geht auf. Plötzlich, gerade groß genug, dass man das Fahrrad samt Gepäck reinschieben konnte, nur zu, nur zu, bring doch die Sachen erstmal rein, was ist das Problem, Hand am Kinn, Haare raufen, muy Problemo, muss ich nach Andorra fahren, das Ersatzteil holen, oder, ja klar, kannst du das an unsere Adesse schicken lassen, dich auf dem Camping einquartieren, immerhin ein Lichtschimmer.

Aber der Mann hatte noch immer Denkfalten auf der Stirn, tänzelte ums Rad, wuselte in der winzigen, etwa garagengroßen Werkstatt, durchwühlte Kisten, findet ein Schaltauge, passt nicht, murmelte wieder Andorra, muy Problemo, wühlte weiter, drückte mir einen Fahrradrahmen in die Hand, der kürzlich kaputt ging. Neunhundert Gramm wiegt das Ding, was sagste nun, beäugte ein in Reparatur befindliches Fahrrad, das auf den Montagebock geklemmt war, schraubte die Schaltung ab, schraubte auch das Schaltauge ab, legte mein gebrochenes Schaltauge auf das andere, passt.

Ein Wunder. Ich könnte heulen vor Glück.

Die Reparatur mit Reinigung von Zahnkränzen und Schaltung, Luft auf die Reifen, ach, und bei der Gelegenheit auch noch die marode Tretkurbel festziehen, dauerte insgesamt drei Stunden. Jordi, so heißt mein Fahrradengel, redete die ganze Zeit rege auf mich ein, Tranquillo, tranquillo, immer wieder und ich assistierte, wunderte mich, dass ich zwar weder spanisch noch katalanisch spreche, aber doch durch meine romanische Grundbildung, das bisschen Französisch und Latein,  einiges verstehe, wenn ich nur genau zuhöre.

Am Ende stehen 64 Euro auf der Rechnung und auf diese kurze, gemeinsame Reparturaktion hin eine seltsame Art neue Freundschaft, denn irgendwie sind wir uns, fremd wie wir waren, Jordi und ich, verdammt nahe gekommen, so im Vorbeigehen zwischen einem Problem und dessen Lösung.

Tag #35 – Infos aus der Homebase

Nach einer Talfahrt südwärts Richtung Lleida, das Irgendlink auf Twitter als windig und staubig beschreibt, hat er nun einen feinen Übernachtungsplatz gefunden. Es muss ja nicht immer ein Straßenrand sein und von Dramas haben wir erst mal genug.

»Bin in Granja und hätte nicht gedacht, dass ich einen hundefreien, wind- und sichtgeschützten Platz finde. Puuuh!« So smste Irgendlink soeben.

Foto 1
Walze nahe Menarguens
Foto 2
Skulptur in Lleida
Foto 3
Plakatfetzencollage in Torres de Segre

Zum heutigen Track bitte hier ⇒ klicken. (Wegen Netz-Unterbrüchen kann die angezeigte Totallänge vom real gefahrenen Wert abweichen.).

Zur klassichen Version der heutigen, ungefähren Etappe bitte hier ⇒ klicken.

Ein Engel bitte, geschüttelt oder gerührt. Egal. #Gibrantiago

Morgenkühle Betonbank, Sonne kämpft sich langsam durch. Vor mir rauscht der Fluss, querab im Süden tutet etwas langanhaltend wie eine Bahn vielleicht, das Geräusch mischt sich mit Wind und Straße und ein Kuckuck, kann das sein? Die Klapperstörche hinter mir im Baukran sind jedenfalls keine Einbildung. Vier, fünf Nester garnieren das alte, stählerne Fachwerk und unter dem Kran ruht bis auf alle Ewigkeit eine Bauruine, wie sie für Spanien so typisch sind, sagte man mir. Überbleibsel der Immobilienblase, die einst platzte. Als habe man alles stehen und liegen lassen, findet man diese Gerippe aus Beton und halb ausgemauerten Wänden, manchmal auch nur Treppenhäuser mit Flachdach und Säulen in fast jeder Stadt. In den Dörfern, die meist auf einem Hügel liegen, sind fast alle neueren Gebäude, also die hässlichen, in denen sowieso nie gutes Leben hätte stattfinden können, finde ich, ‚En Venda‘, zu verkaufen.

Balaguer liegt an einem Fluss. Der rauscht wohl Richtung Lleida, noch etwa 25 Kilometer entfernt. Es gibt ein Theater in der Stadt und jenseits meines Schreibplatzes zieht sich eine Reihe Wohnblocks dahin, sechsstöckige Etwasse mit Autogaragen untendrunter.

Die letzten Tage waren ein bisschen streng. Zunächst die Pyrenäensüdquerung, die aus drei Pässen über 1000 Meter, der höchste gar fast 1500 Meter hoch, bestand, etwa zweihundert Kilometer von Olot über Ripoll, Berga bis zu dem kleinen Dorf Cambrils, von wo mich eine ‚Carretera Muntanya‘, eine Gebirgsstraße über einen unerwarteten vierten etwa 1200 Meter hohen Passe endlich in flachere Gefilde entließ.

Obschon flach, das gibt es vielleicht gar nicht in Spanien. Ich habe einmal gehört, es sei das europäische Land mit den meisten Bergen über 2000 Metern Höhe. Weiß nicht, ob das stimmt. Dennoch, ab einem Weiler namens Bassella, der eigentlich nur aus einer Tankstelle und einem Verkehrsmuseum und einem riesigen Parkplatz besteht, ist man raus aus den Bergen.

Als wolle das Schicksal mit mir Pingpong spielen, beschert es mir mit Erreichen der flacheren Gefilde eine erste massive Panne. Das hintere Schaltwerk verhakte sich in den Speichen und ich kann von Glück reden, dass ich es rechtzeitig gemerkt habe, zwei Tage ist das jetzt her. Ein Herz-Hosentaschengefühl, denn als ich den Schaltkäfig geradebiegen will, reißt das Schaltauge, also die Befestigung am Rahmen ab. Das Radel ist mit einem Schlag unfahrbar, da die Schaltung ja auch als Kettenspanner fungiert. Lose hängt das Ding unter den Packtaschen neben dem Hinterrad.

Schnitt.

Es passierte im letzten Drittel des fast sieben Kilometer langen Nordkap-Tunnels. Acht neun Prozent steil fällt die Verbindung zwischen Festland und Nordkapinsel zunächst etwa dreieinhalb Kilometer weit und über 200 Meter tief unter das Meer, um sodann ebenso steil und ebenso lang wieder nach oben zu führen. Man kann den Tunnel eigentlich prima radeln. Es herrscht nicht so viel Verkehr außerhalb der Hauptsaison. Abwärts ist man sowieso fast so schnell, wie Autos und aufwärts kann man auf einem etwa achtzig Zentimeter breiten Gehweg entlang der glitschigen Felswand nach oben schieben oder kurbeln. Alle zwanzig Meter ist die Distanz, die man schon zurückgelegt hat an die Wand gemalt. Der Tunnel ist beleuchtet. Die Luft okay, es gibt eine Notrufsäule und eine Nothaltebucht ganz unten. Er war also bester Dinge, als er mit seinem Rennrad und dem Anhänger hinaufkurbelte und das Nordkap in greifbarer Nähe wähnte. Plötzlich trat er ins Leere. Die Kette klatschte auf den Teer und er konnte von Glück reden, dass er sich bei dem ersten ruckartigen Leertritt nicht den Fuß verstaucht hatte. Etwa einen Kilometer noch bis hinauf ans Ende der Röhre, sagten die Zahlen an der Tunnelwand. Er schob und schob und in seinem Kopf machte sich ein gewisser Frust breit, denn bis Honningsvåg, der Stadt, in der es hoffentlich einen Radladen hätte, waren es noch gut zwanzig Kilometer, über Brücken, einen weiteren Tunnel, im Wind und Regen. Es würde fünf, sechs Stunden dauern. Oben angekommen beäugte er den Schaden und als er aufblickte, stoppte ein Norweger sein Auto, mitsamt dem Anhänger voller Kajaks, bot ihm Hilfe, die weit über das normale Maß an Hilfsbereitschaft hinaus ging, denn er lud die Kajaks bei einem Freund in der Nähe ab, kehrte zurück, packte das Gespann auf den Anhänger und chauffierte ihn bis nach Honningsvåg. Honningsvåg ist nach 17 Uhr eine trostlose Stadt. Still liegt der Hafen. Alle Geschäfte haben geschlossen, bis auf den großen Supermarkt am Stadtrand, in dem er aber keine Hilfe für sein Fahrrad erhalten würde. Bis zum nächsten Campingplatz würde er weitere sieben Kilometer schieben müssen, einsam irrte er durch den Hafen und hatte die Hoffnung, dass ihm jemand helfen könnte längst aufgegeben, bis er mich traf.

Als Radler habe ich einen Blick für in der Patsche sitzende Menschen. Es kommt ja hin und wieder vor, dass man selbst in der Patsche sitzt und daher weiß man, wie jemand aussieht, der in der Patsche sitzt, ach was, man weiß ganz genau, wie sich in der Patsche sitzen anfühlt. Nämlich beschissen.

Deshalb drehte ich noch einmal um, als ich den Jungen fahrradschiebend in einer Seitengasse sah, fragte, ob alles okay ist. Nichts war okay. Er suche einen Fahrradladen, sagte er. Es ist alles zu hier, habs selbst gesehen, war ja eben kreuz und quer hier unterwegs zwecks Sightseeinig. Vor der Touristinformation, wo die Tunichtgute der Stadt im offenen WLAN surften, schaute ich mir sein Problem näher an und zauberte den Kettentrenner aus meiner Packtasche, den ich über 4000 Kilometer von Deutschland ans Nordkap und bis hierher geschleppt hatte, ohne ihn selbst zu brauchen. Schnell war die Kette um zwei marode Glieder gekürzt und neu zusammengenietet. Der Junge – nun da ich dies schreibe, hier in Ballaguer, fällt mir sein Name nicht mehr ein – war der glücklichste Mensch der Welt und ich sozusagen so eine Art Engel.

Schnitt.

Ich wusste, dass das Problem mit der abgerissenen Schaltung massiv ist und nach einigem hin- und hertwittern mit @RecumbentTravel, sank jede Hoffnung, in kurzer Zeit das Problem zu lösen, denn die Diagnose ‚kaputtes Schaltauge‘ (das ist ein winziges Teil aus Aluminium) ist eine der härtesten, die es gibt auf Radreisen. Profireisende nehmen deshalb immer ein Ersatzschaltauge mit, habe ich mir sagen lassen. Es gibt über 2500 verschiedene Schaltaugen (there are Nine Million Schaltauge in Bejing, dudelte mir höhnisch ein Lied).

Es ist unwahrscheinlich, solch ein Spezialteil hier in der Gegend zu kriegen. Immerhin gelang es mir, durch Kettenkürzen – ja, der Kettentrenner leistet noch immer gute Dienst – das Fahrrad in ein Eingangrad zu verwandeln, so dass ich auf ebener Strecke ohne Gegenwind gut radeln könnte.

In der Tankstelle in Bassella half mir die Tankwartin weiter mit dem Tipp, ins sieben Kilometer entfernte Oliana zu radeln, dort gebe es eine Autowerkstatt, vielleicht könnten die helfen.

Also schuftete ich mich gegen Einbruch der Dunkelheit nach Oliana, wo ich am Fluss das Zelt aufbaute. Ein wunderbarer Lagerplatz und ich schlief gut, aber als ich mitten in der Nacht erwachte, kam mir die Misere in den Sinn. Wie schön es doch wäre, wenn ich am Morgen einfach weiterradeln könnte. Hätte, hätte Fahrradkette, und so recherchierte ich noch in der Nacht das Grauen: Forenberichte, in denen von mehrwöchigen Wartezeiten die Rede war.

Einzige Möglichkeit schien mir, das Teil im Internet zu bestellen (in der Hoffnung, dass mein Schaltaugentyp auf Lager ist) und mich auf eine Woche Wartezeit einzustellen, eine Adresse in Oliana müsste ich angeben, und dann das Glück haben, dass der Einbau noch klappt. Hier in einen Radladen zu spazieren und einfach so das richtige Schaltauge zu kaufen, war utopisch.

Die nächsten Städte, in denen es überhaupt Fahrradhändler gibt, Andorra la Vella und Lleida, sind jedenfalls unerreichbar weit.

Ein Engel muss her, dachte ich, als ich nach der Recherche gegen vier Uhr nachts ein zweites Mal einschlief.

Tag #34 – Infos aus der Homebase

Was für ein Thriller war das heute auf Twitter und im RL, im Reallife des Irgendlink: Nachts schrieb Irgendlink eine Mail an einen Internetshop, der mit Schaltaugen handelt. Lässt sich womöglich per Mail herauszufinden, ob es für sein Problem eine Lösung gibt, ob innert nützlicher Frist ein Ersatz-Schaltauge nach Spanien lieferbar wäre?

Hätte, hätte, Fahrradkette: »Der Fahrraddefekt ließe sich wie folgt lösen: kaputtes Teil schweißen. Ersatz fummeln. Dreigangnabe einbaun. Roloffnabe? Neuer Rahmen.« So twitterte Irgendlink heute Morgen, bevor er sich auf den Weg in die Autowerkstatt machte. Aus der Autowerkstatt wurde eine Hinterhof-Fahrradwerkstatt: »Es gibt doch tatsächlich einen Fahrradhändler in Oliana. Und er hat tatsächlich ’n passendes Schaltauge. Heul gleich vor Glück.« Kurz vor zehn lese ich seinen Jubelruf.

Followerpower ist schon wunderbar. Noch bevor Irgendlink die Lösung kennt, suchen @SchaferDieter und @RecumbentTravel bereits ihrerseits nach Liefermöglichkeiten. Dieter ruft sogar an und erfährt alles über Schaltaugen. Es gibt, so erfahren wir im Laufe des Tages, um die 2’500 verschiedene Schaltaugen. Vermutlich sogar mehr. Von daher: Es ist wirklich ein regelrechtes Wunder, dass Jordi, der Fahrradflüsterer von Oliana genau das richtige Schaltauge an Lager hat. Und ja, es gibt sie, die berühmte Nadel im Heuhaufen. Und die kostet gerade mal 64 € bei drei Stunden Arbeit.

Die Twitterfreunde überschlagen sich mit Irgendlink vor Freude. Und ich natürlich auch. Vor allem auch, als um zwei die Meldung eintrudelt, dass die Fahrt weitergehen kann. Mit dem rundumerneuerten Rad samt neuer Kette.

In Montsonís

Jetzt baut er sein Zelt kurz nach Foradada, unweit der Straße auf. Währschaft müde von der morgendlichen Aufregung und dem Ritt durch die Lande.

Zum heutigen Track bitte hier ⇒ klicken. (Wegen Netz-Unterbrüchen kann die angezeigte Totallänge vom real gefahrenen Wert abweichen.).

Zur klassichen Version der heutigen, ungefähren Etappe bitte hier ⇒ klicken.