Und Lyon #Gibrantiago

Anmerkung: dieser Artikel liest sich vielleicht gut zu den Klängen von ‚I Want More‘ aus dem Album Flowmotin der Band Can.

Und dann Lyon, der Angstgegner, der sich schon zig Kilometer vor dem Zentrum in Villette als mutmaßlich hektisch erweist und nur acht Kilometer nach dem gestrigen Etappenstart windet sich ein sandiger, gut fahrbarer Weg am Rhôneufer und will und will nicht aufhören und der angekündigte Regen geht nieder und du ziehst die Regenhose über unter einem schrägstehenden, mit Efeu bewucherten Baum, der seine Last mit Würde trägt und vereinzelt ziehen regennasse Radler an dir vorbei, woher kommen sie, wohin gehen sie, wollen sie zur Arbeit und an jeder nur erdenklichen Ecke des Wegs, an der man zweifeln könnte, ob rechts, links, geradeaus, hält sich wie durch ein Wunder ein Engel auf, meist in Holzfällergestalt, oder mit schwerem Ölzeug bewandet als Bauarbeiter verkleidet, wie jener bärtige Kerl, den du fragtest, kann ich da am Fluss einfach so weiter, oder muss ich der Veloroute durch die Auen folgen, und er dir zunickt, klar, immer am Fluss bis Lyon und er dir nachruft auf deutsch bis bald und du ihm zurufst auf Wiedersehen und der Regen lässt ein bisschen nach und unter Brücken kannst du kurz durchatmen, die Stadt ist nah und laut und überall schwirren Autos und Mopeds und Dieselrußgestank liegt in der Luft und der Weg führt durch zwei oder drei Parks und plötzlich, die Stadt und ab nun bemühst du den Track auf dem Handy GPS und halt, Moment, diese Hausboote, das gibts doch gar nicht, da haben die einen golfplatzähnlichen Park angelegt mit einem Baum in der Mitte und alles ist umzäunt und videoüberwacht und eine Junkie kommt auf dich zu mit ihren knollenartigen Knien und labert dich an und du tritts ordentlich rein und ignorierst sie, während ein paar andere unter einer Brücke dir nachpöbeln und es dir eiskalt den Rücken runterläuft und dir wird die Zwiespältigkeit der Stadt bewusst, ihr kraftvoller Motor, der die Menschen ehrfürchtig anzieht, weil, hier spielt die Musik, und es kann nicht jeder schaffen, und die Vegetierenden ducken sich ängstlich verloren in wind- und regengeschützten Ecken, während du vorbeizischst, in der Hoffnung, nicht überfallen zu werden und mit all dem hochpreisigen Zeug am Leib musst du wirken wie eine goldene Gans, die man nur schlachten muss und rüber zur Saône folgst du einem radelnden Mädchen, das beflissentlich alle Ampeln ignoriert und bloß nicht den Fluss verlieren, langsam sickert der Dauerregen unter die Klamotten und mischt sich mit Schweiß, der nicht verdunsten kann und die Handschuhe sind klatschnass und warum ist es so verflixt schwer, mit klammen Händen in trockene Handschuhe zu schlüpfen, aber mit trockenen Händen in nasse geht ganz einfach und plötzlich, das Ortsausgangsschild schon und direkt geht die Stadt über in den Stadtteil Mulatière, was so arabisch klingt, findest du, und drüben im Hafen haben sie futuristische Häuser gebaut, knallrot und giftgrün und der Hafen jault und in den Häusern sind riesige Löcher mit Terrassen und Balkonen, soweit du erkennen kannst und der Regen lässt nach und der Regen starkt auf und das Grau des Himmels lastet insbesondere hier an der recht stark befahrenen D 15, der du seit dem Aquarium folgst, gar schwer, und da kommt dir der Typ gerade recht, der sich im Vorbeifahren aus dem Fenster seines Transporters beugt und dir quer über die Straße zuruft, bonne Chance, wie eine Comicfigur sieht er aus mit übergroßen Brülllippen und weit ausladender Geste mit dem linken Arm, und du denkst, du hast es langsam geschafft, als in Irigny endlich der erste Fetzen Radweg entlang der Straße auftaucht und du dich plötzlich fühlst wie ein kleiner Scott-Amundson, den Südpol erobert, Flagge gesteckt und du dahingleitest auf deinem superschnellen fünfzig Kilo schweren Seelenbike und der Radweg wieder aufhört und du in einer Lärm und Dunstglocke dreißig Kilometer hinter dich bringst und dir derweil überlegst, wieviele Päckchen Zigaretten umgerechnet wohl eine Stunde Radeln im Dunstkreis Lyons ausmacht und dann Givry und dann Givors und das Gedenkschild an die fünfzehnte Etappe der Tour de France im Jahr 2013, die nach 242 Kilometern auf dem Mont Ventoux endete und ach, fast hättest du es vegessen, dieses Hinweisschild, auf dem Stand, La Mer 368 Kilometer, ein vier, fünftägiger Nachdensternengriff und schwupp, Sand, Sonne, Süden und endlich-endlich kurz hinter Givors wieder Via Rhôna-Radwegschilder und ein solid ausgebauter echter Radweg und das Tal weitet sich und kurz vor der Abenddämmerung kannst du das Glück gar nicht fassen, dass du in einem Mandelhain ein Zeltplätzchen findest, das weit genug weg ist von allen Straßen und der Autobahn und den beiden, donnerwetter sind die laut, die Bahnlinien und du baust das Zelt im Regen auf, wirfst schnell alles Essbare und die Technik hinein, kurbelst den Trangia an, der dir als Zeltheizung dient und denkst über die Idee nach, einen Blogartikel mit ganz vielen Unds zu schreiben, ach, egal, du bist ja frei, tu es und sei erstaunt über die Schönheit und den Rhythmus, der ihm innenwohnen wird.

9 Gedanken zu „Und Lyon #Gibrantiago“

  1. *tiefluftholgeräusch*

    Meine Güte! Nach der Anmerkung nicht mehr zu Absetzen oder Luftholen gekommen. In einem Satz runtergelesen, halblaut vor mich hin, mit den letzten Atemreserven beim Zeltbau anlangend beinahe erstickt sein …

    Junge!

  2. Ich bin hier ja eher ein stiller Mitleser, aber diesem Text möchte ich dann doch meine Referenz erweisen. Ein Bandwurmsatz, der die Ereignis- und Gedanken-Fülle ahnen lässt, die Dir auf den Tagestouren begegnet, und doch: Wie viel wirst Du dabei weggelassen haben müssen?!
    Ich grüße Dich, Uwe

  3. Lieber Jürgen, diese Art zu schreiben nenne ich ohne Punkt und Komma und hat etwas Atemloses und ist so ein wunderbarer Spiegel für das, was an manchen Tagen eben ist. Und Lyon … da könnte ich jetzt von Samstagmorgen erzählen, als der Alptraum wahr wurde und wir die Umgehungsautobahn verpassten und zweimal im Kreis durch diese Seltsamstadt fuhren, Tunnel, futuristische Bauten ohne Fenster, hektische Autofahrer, schlechte Beschilderungen und dann eben meinem Gefühl vertraut, gegen den Plan des Liebsten, und dann endlich … ja und wirklich raus und nix wie weg! Wieder einmal ziehe ich meinen Hut vor dir, wir waren ja im Auto … wie muss das erst auf dem Radel sein?!
    Irgendwie noch schade, dass wir uns nicht irgendwo treffen konnten.
    Good days and ways und besseres Wetter. In Asturien sprachen die Einheimischen von einem ungewöhnlich kalten und regnerischem Frühjahr … fand ich auch-

    1. Uaaah per Auto in Lyon. Fast noch schlimmer. Da kann man sich nichtmal in einer Nische verkriechen. Und: wir treffen uns ja doch irgendwann wenn die Zeit reif ist.

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