Tag #43 – Infos aus der Homebase

Nach morgendlichen Regenfällen samt Hagel klarte es gegen Mittag auf, so dass Irgendlink weiter südwestlich durch die öde, fast lappländisch karge Landschaft radeln konnte.

Das Netz ist phasenweise eher wackelig, sodass die Kommunikation entsprechend lückenhaft funktioniert.

Heute zeltet Irgendlink in der Pampa bei Yecla und smst: »Unter Kiefern ne Pinien am Wanderweg. Wind ist weg. Straße ruhig. Fernab ein paar Hunde.«

Acres. Unter den Markisen hinten ist mein Frühstücksrestaurant.

 

Hinweis auf eine Kartbahn in Villans

 

Möbelbauerdenkmal in Yecla

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Tag #42 – Infos aus der Homebase

Heute hat Irgendlink die Küste verlassen und radelt seit Vilallongo auf einer ehemaligen Bahntrasse Richtung Alcoy. »Steinig, aber sowas von schön,« twittert er. Einem Bad im Fond de Botero, was immer das ist, sieht man hier, widersteht er. Weil aprilfrisch.

Ein ruhiger Tag. Nun baut er sein Zelt in einem Fast-Funkloch kurz nach Alcoi auf.

Falls im Laufe des Abends doch noch Bilder durchs karge Netz zu mir gekrochen kommen sollten, werde ich sie anfügen.

Das folgende Bild hier haben TwitterfollowerInnen heute bereits gesehen. Es spricht von einem freundlichen Tag. So freundlich, dass selbst Heiko Moorlander, Irgendlinks Alter Ego, der MudArtist, ihm und der Gegend ein Kunstwerk gewidmet hat.

HMoorlander_Poleposition
Mit ‚Poleposition‘ dankte Heiko Moorlander den Bürgerinnen und Bürgern Gandias für den freundlichen Empfang.
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Auf diesem Tracklink ist auch die Skizze des Restweges nach Jerez mitdrauf. Zur Reststrecke haben wir im Netz keinen gpx-Track gefunden. Mehr über seine Wegsuche wird Irgendlink demnächst bloggen.

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Die einfache Rückkopplungsidee des Herrn Irgendlink #Gibrantiago

Jenseits von Puçol nähert sich im Schrittempo eine Kehrmaschine auf dem knallrot angemalten Radweg. Hinter ein paar Bäumen eines Picknickplatzes jault ein Dieselmotor und man hört die Schippen von Bauarbeitern klappern, die – offenbar – dem Minibagger zur Seite stehen und die Feinarbeit leisten. Querab etwas weiter weg spielt das Rückfahrwarngepiepse einer anderen Baumaschine auf einer anderen Baustelle mit in dem Orchester. Sozusagen die erste Geige der Bauarbeit.

Ich habe es mir auf einer Picknickbank gemütlich gemacht und lasse den Radweg an mir vorbei flanieren. Männer und Frauen, Radler und Jogger, sogar Inlineskater sind auf dem fein geteerten Etwas unterwegs. Der Wind treibt müde Plastiktüten dahin. Meine Solarzelle pumpt Energie in das iPhone und in den Pufferakku.

Sie alle rennen, um gesund zu bleiben. Gesund und fit und dem Ideal des geschäftigen Menschen zu gehorchen, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir leben in einer rennenden Welt, denkt mein Hirn und bastelt am Bild einer sich selbst treibenden Geschäftigkeits- und Wertschöpfungsmaschine. Nur wer sich bewegt, wer fit und gesund ist, der taugt etwas in diesem eigenartigen Perpetuum Mobilé und nur wer schneller wird als die anderen und mithält mit dem Schnellerwerden der anderen, die wiederum mithalten müssen mit dem eigenen Schnellerwerden … hach, welch eigenartige Kettenreaktion, welch teuflisch fatale Rückkopplung, ich sitze still, schäle eine Orange, esse sie. Ein pummeliger Mann radelt auf den Rastplatz. Am Fahrrad hat er ein Radio, scheinbar fest eingebaut, genau wie bei Autos. Jemand muss ihm klar gemacht haben, dass dies ein guter Kauf ist, dass es genau das ist, was er braucht, ein Fahrrad mit Radio und USB, damit er immer seinen Lieblingssender hören kann, wenn er trainiert, vielleicht arbeitet er in einem Büro, vielleicht hatte er kürzlich einen Herzinfarkt und ist jetzt rekonvaleszent, vielleicht ist er schon Rentner?

Aus dem Schatten eines Baums kommt ein anderer Mann daher. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er am Picknickplatz angefahren ist. Er drückt mir einen Stadtplan von Valencia in die Hand. Das ist nur noch 15 Kilometer entfernt, sagt er und dann kramt er aus seinen Packtaschen weiteres Radlermaterial. Zwei Radlermagazine auf spanisch schenkt er mir und die Visitenkarte eines Radlercafés, da könne ich zum Beispiel das schwer bepackte Europennerradel abstellen und einen Stadtspaziergang machen. Die würden dann auf mein Rad aufpassen. Die Stadt sei voller Schlawiner, armer Leute und es sei gefährlich, das Gepäck unbewacht zu lassen und dann drückt er mir noch eine weitere Visitenkarte in die Hand von einem Radlergeschäft, in dem der beste Monteur der Stadt arbeitet. Dort könne ich auch so eine Presslufthupe kaufen, wie er sie montiert hat. Er demonstriert mir das Warngerät, fast so laut wie eine Autohupe. Sagte er 25 Dezibel oder 250? Ich weiß es nicht mehr. Das Ding ist mit einem Druckschlauch an einer Flasche befestigt, die in den Trinkflaschenhalter passt. Mit einer normalen Luftpumpe und Autoventil pumpt man es auf und hat dann genug Luft, um fünf, zehn, fünfzehnmal zu hupen. Je nachdem wie lange und intensiv.

Manolo, so heißt mein valencianischer Leitengel, ist schon 81 Jahre alt und er fährt jeden Tag die Strecke von Valencia nach Sagunto und wieder zurück. Fünfzig Kilometer. Ich hätte ihn auf höchstens siebzig geschätzt. Radfahren hält jung.

Die Via Verde führt tatsächlich bis hinein in die Großstadt, obschon die Strecke entlang der Hauptstraße und durch zig Kreisverkehre nicht gerade schön ist, bin ich dankbar, nicht mit den Dieselrußkarossen auf einer Piste fahren zu müssen. Auch die Radwegführung in Valencia gelingt  – GPS und Track sei Dank – bestens. Plötzlich bin ich in einer länglichen Oase, mitten in der Stadt. Hatte nicht Manolo erzählt, der Radladen sei direkt am Fluss, aber den Fluss gebe es nicht mehr? Ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass der Fluss, der einst durch Valencia floss nach einem katastrophalen Hochwasser kurzerhand umgeleitet wurde und das stillgelegte Flussbett wurde zum Park umgewidmet. So folge ich ein, zwei Kilometer den Radwegen in dem vielleicht hundert Meter breiten Gelände, hindurch unter uralten Brücken, vorbei an Spielplätzen und Skatearenen bis hin zu einem Museumsgelände, auf dem futuristische Gebäude stehen, die aussehen wie das Maul eines überdimensionalen Fischs, Springbrunnen und hunderte Meter lange Wasserbecken, Touristen und Studenten. Die Stadt ist jung, sie lebt, sie pulsiert.

Was habe ich wohl mit dem gestrigen Bericht über die Nutten und Schneckensammler für ein verzerrtes Spanien-/Europabild gezeichnet, mich selbst als apokalyptischen Radler bezichtigt, der den Niedergang eines ganzen Kontinents dokumentiert, aber das stimmt doch gar nicht. Vielleicht ist es ja mit uns Menschen wie im Wald? Wir wachsen auf dem Nährboden verrottender Vorangegangener. Der ersten Generation der Tod, der zweiten die Not, der dritten das Brot und das immer wieder im steten Rund der Generationen? Wohl dem, der in einer Brotschleife geboren wurde, so wie ich, wie wir alle; und das ist aber auch nur die halbe Wahrheit, denn ich sitze obendrein noch auf der richtigen Seite des Mittelmeers, wird mir gerade klar, sitze frühmorgens am Strand in der Nähe von Gandia. Die Sonne powert ordentlich drauflos und die Solarzelle pumpt den Akku voll. Menschen flanieren auf der Strandpromenade und auch die ewig wetzenden Jogger, Hundegassigängerinnen, das Land ist reich.

Eine Front aus Hochhäusern voller Appartements bleckt Richtung Meer, eins von ihnen sieht fast aus, wie ein Inkatempel, wie eine terrassenartige Pyramide. Müllcontainertransporter, emsige Bauarbeiter, ein ganz anderes Bild, als der deprimierende Orangenstrich jenseits von Castellón, als die verhärmten Schneckensammler in der niedergegangenen Gewerbewüste nördlich von Valencia, als der keuchende Junge, der einen riesigen Wagen voller Altpapier entlang der Autobahn schob – ob er das hier im Straßengraben sammelt, habe ich mich gefragt, ob das sein Beruf ist, ob er davon leben kann oder muss?

Vorhin radelte ich kilometerweit durch dicht besiedeltes Gebiet, das heißt, alle paarhundert Meter am Wegrand steht eine kleine Finca umgeben von Orangenhainen. Fast jedes Grundstück ist eingezäunt oder ummauert. Überall Tore und Warnschilder, dass das Gelände alarmüberwacht ist, Securityservice hier, Securityservice dort und die Hunde, die allseits in den Grundstücken vermutlich nicht gerade ein Sonnendasein führen, blaffen dich an, zerren an den Ketten, blecken die Zähne. Angst, schießt es mir in den Sinn, das ist die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg, die Angst davor, so zu werden wie die Schneckensammler und die Nutten und der Papiersammler jenseits von Valencia, oder noch schlimmer, so zu enden wie das Häufchen Elend vor dem Supermarkt in Puçol, speckig, dreckig, blau geschlagenes Auge, aufgerissene Lippe, demoralisierter Blick, nur er, ein paar Kleider und eine schmutzige Plastikschale für das Geld, ein Bild, das mich zur Vollbremsung nötigte und ich ihm etwas in den Becher warf, sein Blick sich für einen winzigen Moment erhellte, mir klar wurde, du wirst ihn nicht mit allen Mitteln der Welt retten können, genausowenig wie die Nutten und die Schneckensammler und den Papierboy und auch die schweißgebadeten Jogger, die doch eigentlich nur um ihr Leben joggen, um fit zu bleiben, um ihren Job, den sie vermutlich nicht lieben, behalten zu dürfen, der sie nährt, der sie Mittelschicht macht, auch die wird niemand retten. Hamsterrad, schreis laut in den Himmel, niemand wird es hören und wir alle leben darin.

Die einfache Rückkopplungsidee des Herrn Irgendlink ward geboren kilometerweit durch eine Schlucht aus Orangenhainen und vermauerter eingezäunter Fincas radelnd und über den Zusammenhang zwischen Alarmanlagen, Wachhunden und der Angst vorm Abstieg nachdenkend. Mit der einzig plausiblen Antwort, dass was in dieser Gesellschaft stattfindet ein Wettrüsten des Mittelstands gegen den Abstieg ist. Je mehr abgestürzte, bedrohlich wirkende Ex-Mittelständler es gibt, die bitterarm im Dreck vegetieren, desto größer und auch begründeter die Angst vor Dieb und Mord und desto mehr kauft man Alarmanlagen und Wachhunde und schuftet dafür im ungeliebten Job und hält sich seelisch moralisch fit, damit man diesen Job auch behalten darf.

Welch bipolare Welt und du, knabenmorgenkünstchenträumender Typ sitzt auf deinem Bänklein und beobachtest das alles.

Schon möglich, dass du dich irrst.

Tag #41 – Infos aus der Homebase

»Wieder eine Via Verde. 15 km von Puçol bis Valencia«, twitterte Irgendlink heute Vormittag. Und später beschreibt er die östlich von Sagunt liegenden riesigen erschlossenen Grundstücke, die an vierspurigen Straßen brachliegen. »Laternen, Gehwege und nichts.« Aber es radelt sich angenehm, auf den gut ausgebauten Radwegen.

Es ist eine Welt der krassen Gegensätze, die Irgendlink da erfährt. Kontraste, wo hin er schaut. Endzeiteuropa neben pulsierenden Dörfern, wo busweise Touristen in hingekarrt werden,Bootstouren machen, wieder wegfahren.

Kurz nach Cullera hat er nun einen Platz für die Nacht gefunden.

Pano im verlegten Flussbett in Valencia
Pano im verlegten Flussbett in Valencia
Denkmal in Sueca
Denkmal in Sueca

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Apokalyptischer Radler? #Gibrantiago

Ich weiß nicht, ob an der vielzitierten Sache mit dem Frosch und dem kochenden Wasser etwas dran ist, ob der Frosch, wenn man ihn langsam im Topf erhitzt so lange sitzen bleibt, bis er den Hitzetod erleidet, aber wenn man ihn direkt in kochendes Wasser wirft sofort herausspringt. Die Sache passt jedenfalls auf das Thema Schere, das ich vor einigen Blogeinträgen schon einmal aufgegriffen hatte. Die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich, ein simples Abbild unserer Welt. Eine aufgeklappte Schere, bei der die einen auf der einen Spitze hocken und sich die Bäuche vollschlagen, während die anderen auf der gegenüberliegenden Spitze in Hunger und Elend verkommen. Das Bild passt eigentlich auf alles, was mit Wirtschaft und menschlichem Miteinander zu tun hat. Vom ganz kleinen bis ins ganz große. Die Schere verdeutlicht das Auseinanderklaffen des Wohlstands verschiedener Staaten ebenso wie das Auseinanderklaffen des Wohlstands verschiedener Gesellschaftsschichten, ja, man könnte die Schere sogar bis ins Familiäre hineindenken, und letztlich zu dem Schluss gelangen, das ist doch eine ganz natürliche Sache, mal gewinnt man, mal verliert man und was die einen zu wenig haben, das gehört eben den anderen, die es ihnen auf mehr oder weniger ehrliche Weise abgeschwätzt haben.

Wenn wir nicht so hochnäsig wären und uns als Menschen und Gottes Schöpfung, als die von höherer Kraft auserkorenen Herrscher und Hüter der Welt sehen würden, sondern als das, was alles auf dieser Welt ist, ein Stück Natur, das sich im steten Wachsen und Niedergehen in einem gemeinen unbarmherzigen Kampf untereinander und mit anderen Arten befindet, könnte man zu dem Schluss kommen, alles ist in Ordnung mit dieser Welt. Die vielen kleinen Schweineställe etwa mit den abgedichteten Fenstern, die einem schon kilometerweit, je nach Windrichtung, entgegenstinken und aus denen, wenn man ihnen nahe genug kommt, gar erbärmliche qualvolle Schreie kommen, wären in einer Mensch gleich Tier-Welt ohne jegliche Moral vollkommen in Ordnung. Da würde es kein Mitgefühl geben, da müsste man sich nicht in das Wesen anderer Wesen versetzen, es wäre völlig okay, dass es Lebewesen gibt, die ihr Lebtag kein Tageslicht sehen, die dicht an dicht im eigenen Kot gemästet werden, die erzeugt werden, um geschlachtet, kleingehackt in ihren eigenen Darm gepresst, gefressen zu werden. Eine Ware wie du und ich.

Denn wir machen ja mit der Mästerei nicht vor der eigenen Art Halt, wir Menschen. Wir halten uns sozusagen selbst als Massentier, indem wir etwa in Feriensiedlungen wie Nutztiere uns für ein geringes Geld einmieten und Gewinne produzieren. Alles ist durchgeplant. Kollektiv gebe wir unser Okay, indem wir die auf solch üble Weise produzierten Waren kaufen und konsumieren.

Hätte ich in Oropesa bloß besser aufgepasst. Gerade habe ich eine halbe Stunde lang das schwer bepackte Fahrrad eine exorbitante Steigung, sagen wir einmal zwanzig, fünfundzwanzig Prozent hinaufgeschoben, treu dem GPS-Track der Mittelmeerroute folgend, da sehe ich vom Mirador, vom Aussichtspunkt, aus einen schönen, flachen Weg unten am Meer. Eine hunderte Meter lange Treppe führt hinunter in die Bucht und der Weg sieht aus wie ein Bahntrassenradweg. Und er entpuppt sich, zwanzig, fünfundzwanzig Prozent steil weiter unten auch als solch einer. Irgendwo in Oropesa muss er begonnen haben, führte vermutlich durch einen Tunnel und ich habe ihn übersehen. Egal. Den Rest der Strecke radele ich durch tief in den Fels gehauene Schluchten bis nach Benicàssim, mehr noch, die Radwege führen einfach weiter, zwar entlang der Straße, aber vorbildlich ausgestaltet mit Kreisverkehrdurchquerungen und Wegweisern und allem Pipapo bis nach Castellón. Die Gegend scheint ein wahres Radlerparadies. Man sollte alle spanischen Radwegebauer nach Benicàssim, Oropesa, Castellón in die Schule schicken.

Regen in Castellón. Raus aus Castellón. Der Radweg folgt offenbar einer alten religiösen Route in Richtung dreier Eremitagen oder Kirchen, wenn ich die Schilder richtig deute. Und mitten hinein in die Orangengegend. Tausende, Abertausende, Millionen Orangenbäume, kleine grüne Bubiköpfe, manche davon in voller Blüte. Herrlich, dieser Duft. Wären da nicht die Aschehaufen alle paarhundert Meter, von denen manche noch glühen und dampfen. Direkt am Straßenrand. Man erkennt die Überreste von Möbeln, Kunststoff, Paletten, Sperrmüll. Neben manchen stehen Stühle, mal sogar ein Sofa, als mache man es sich neben den Feuerchen gemütlich. Wozu? Nachmittagssiesta. Dicke Autos, Mercedes, VW, Kleinlaster, und ganz normale Minitransporter aus dem Hause Peugeot oder Renault passieren mich. Ein Touran schneidet mich, direkt neben einer Pfütze, wie Schmutz komme ich mir vor, als die ersten Nutten auftauchen. Neben den Feuern sitzen oder stehen oder staksen sie in ihren Hotpants und den Strumpfhosen und den hochhackigen Schuhen, palavern miteinander, lassen sich beschauen aus den Autos wie Fleisch, das man auf Trichinen untersucht, vier, fünf Kilometer weit raus aus Castellón und das Ganze inmitten allen Grüns, das nie zu enden scheint bis hinüber nach Burriana und auch dort geht der grünste Straßenstrich der Welt offenbar noch weiter, obschon bei dieser Kälte und dem Mieswetter und außerhalb der Erntesaison kaum Freier kommen. Ich stelle mir die Abende im Hochsommer vor, wenn hier ordentlich was los ist. Da wäre es mir ganz anders, mulmig, dreckig, obszön und an allen Hauswänden und Mäuerchen steht gesprayt Putas con Sida, Nutten mit Aids. Wie Hohn ragt in regelmäßigen Abständen ein feinsäuberlicher katholischer Heiligenschrein am Wegrand.

Erst nach Montcofa, das wie ausgestorben wirkt, bessert sich die Straßenstrichlage. Plötzlich Stille. Kaum ein Auto. Nein, gar keine Autos auf einer nagelneuen Straße, die nach Sagunt führt. Links kann man das Meer hinter verlassenen Appartementssiedlungen rauschen hören. Überall hängen Zu Verkaufen-Schilder, manchmal auch verzweifelte Zu Vermieten-Notrufe. Vorsaisonal ausgestorben. Da, ein Kind auf einem Fahrrad in einem leeren Spielgelände, ein gebückter Mann, woher, wohin. Ich komme mir vor wie in einem Endzeitfilm, ach was, das ist die Endzeit. Ist das das Spanien nach dem Platzen der Immobilienblase, von dem mir @hagengraf und @christinegraf erzählten? Nahe Valencia, sagten sie. Könnte hinhauen. Könnte aber auch sein, dass es hier im Sommer heiß hergeht. Immerhin sind die Anlagen bestens gepflegt. Die Überreste einer Massenpleite stelle ich mir anders vor. Dennoch lasse ich der Phantasie ihren Lauf. Könnte so unsere Welt enden, wenn der menschliche Nutztiermarkt dereinst zusammenbricht?

Ich weiß es nicht. Ich beobachte nur, beobachte die Gerippe einst blindwütigen Baubooms, bis tief hinein in die Innereien der Zementindustrie, des Versicherungswesens. 

Was bleibt sind kahle Bauten, umgeben mit Stahlgittern, für immer heruntergelassene Rollläden, verwildernde Gärten, Alarmanlagen, hie und da der Kleinwagen eines hoffnungslos überforderten Securityservice, der argusäugig durch leere Straßen kurvt. Vielleicht irre ich und im Sommer sieht das hier alles anders aus.

Als ich das Nachtlager neben einer Grünbfallhalde aufbaue, wird mir klar, dass ich ein Teil der Schere bin, die ich zu Beginn dieses Artikels zitierte, dass ich hierher gehöre, als gestrandeter Europenner inmitten gelebten Lebens. Dass ich auf dem ärmeren Teil der Schere sitze, wurde mir schon in den Vogesen klar, wo ich mir die winterlichen Übernachtungen in Hotels oder Pensionen nur dank großzügiger Spenden leisten konnte. Im Laufe der Reise verdichtete sich dieser Frosch-Heißwasser-Gedanke, dass ich ein Frosch bin, den man nach jahrelanger Abstinenz vom Markt in ein überhitztes Etwas aus hohen Preisen gibt; wäre ich jedes Jahr mit dem Fahrrad durch Europa gekurvt und hätte immer brav gezeltet, würde ich mich über Zeltplatzpreise von fünfzehn zwanzig Euro bestimmt nicht wundern, aber zwischen einem Preis von sieben Franc auf dem -zugegeben, das war eine Absteige – Zeltplatz in Feurs/Frankreich im Jahr 2000 und 25 Euro vorgestern am Eukalyptusstrand … verflixt wie heiß.

Tag #40 – Infos aus der Homebase

Ob die Schnecke, die an seinem Schuh herumgekrochen ist, geahnt hat, in welcher Gefahr sie schwebte, fragte sich Irgendlink heute Morgen, als er bei Nieselregen das Zelt verlässt. Es regnete den ganzen Morgen. Bei einem frühen Frühstück in Torreblanca und einer Blogsession im Stadion von Oropesa wartet er den Regen ab und radelt später weiter. Auf einem Stück Via Verde, das auf einmal aufhört.

Ziemlich steil geht es bergan, doch die Aussicht lohnt sich. Und danach tut sich wunderbarerweise ein Radweg vom feinsten auf: »Von Oropesa bis Castellón nur Radweg. Ich kann das Glück kaum fassen.«

Bankster-Graffiti in Benicàssim
Bankster-Graffiti in Benicàssim

Zugemauert
Zugemauert in Castellón: Du kommst hier nicht rein!

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Maurerkunst in Castellón

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Skulptur in Castellón

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Eine Flussdurchquerung ohne Fluss hinter Castellón

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Tennisclubheim bei Xilxes
Und nun baut er hier (siehe Bild) sein Zelt auf. Hat eben alles seine Vor- und Nachteile.

Eine Grünabfalldeponie schützt gut vor Wind - und stinkt nicht nach Diesel.
Eine Grünabfalldeponie schützt gut vor Wind. Und sie stinkt nicht nach Diesel.
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Costa del Zugebaut #Gibrantiago

Noch immer klebt die Erinnerung an dem kleinen grünen Boot auf fahlgrauer See. Zwischen zwei Häusern in Vinarós blitzte es für eine Pedalumdrehung und korrespondierte mit dem Dunkelgrün zur Rechten, eine Melange aus Oliven- und Orangenbäumen, denen sich ein bisschen Ocker von der allseits vorhandenen körnigen, kieseldurchsetzten Erde beimischte. Nachdem man das pottebene Ebroschwemmland verlassen hat, findet man sich eingekeilt zwischen Bergen und Meer wieder, besser gesagt eingekeilt zwischen Bauwerken jeglicher Art. Ein Zementwerk unterbricht jegliche kleinere Straße. Mit Förderbändern hat es zwischen dem Berg, den es abbaut, und dem Meer auf hunderten von Metern alle Verkehrswege abgeschnitten, ausgenommen der Bahnlinie und der N-340, auf der zig Laster und Autokolonnen dahinbrausen. Für zwei, drei Kilometer kurbele ich auf dem Seitenstreifen, relativ sicher zwar, aber schönes Radeln ist das nicht. Kurz vor Vinarós kann ich wieder auf die kleinen Ackerwege ausweichen, die meist geteert sind und ein gutes Vorankommen ermöglichen. Ein Passant erklärt mir, dass ich ein weiteres Stück N-340 sparen kann, wenn ich den Strandweg nehme, auf dem auch der Wanderweg Nummer 8 verläuft, dem die Radroute öfter folgt. Ich müsse nur einen Fluss durchwaten. Knöcheltief sei er und er zeigt es mir an seinem Bein, oder ich soll die Zapatos, die Schuhe, einfach ausziehen, doch das ist gar nicht nötig, stelle ich am Fluss fest. Er ist fast versiegt. Es genügt ein großer Schritt und ich bin drüben, wo das Radel aber eine Treppe hinauf gewuchtet werden muss, um auf holpriger Piste die letzten paar Kilometer bis Vinarós zu meistern.

Ab dort ist die Küste via Benicarló bis nach Peñiscola vollständig zugebaut. Ein Hotel am anderen, Appartementsiedlungen, genannt Urbanization, Zerfall und Bewuchs in Tateinheit. Vieles ist zu verkaufen. Campingplätze verwildern, nur wenige haben sich gehalten. Ein Alabasterladen, für immer geschlossen, ein verwahrlostes Grundstück mit einem Schild ‚Se Vende‘, zu verkaufen, der Camping Castro neben dem Camping Mare Nostrum neben Mülltonnen, neben Schutthaufen, dazwischen ein bisschen urwüchsige Natur, dicht gefolgt von gepflegten Orangenhainen, und immer wieder Urbanization soundso, alarmgesichert, mit automatischen Eisentoren, die den gesamten Ferienkomplex abriegeln.

Hinter Peñiscola ist dann plötzlich Schluss mit Zivilisation, mit Menschenplage. Nur noch ein, zwei Urbanizationen stehen wie eingemeißelt in der Urwüchsigkeit des Naturparcs der Sierra Irta. ‚Zelten verboten‘-Schilder stehen am Eingang zu einer fünfzehn Kilometer langen Bergstraße, die so holprig und steil ist, dass ich ab und zu schieben muss, gut anderthalb Stunden brauche bis zur nächsten Stadt. Zelten wäre in dem unwegsamen Gelände ohnehin kaum möglich. Vielleicht verdankt der Naturpark seine Existenz einzig und alleine dem Platzen der Immobilienblase, frage ich mich. Oder es liegt daran, dass es auf dem Küstenstück nur drei winzige, etwa 100 Meter breite Sandbuchten gibt. Wer weiß.

Außerhalb des Städtchens Alcossebre meide ich den Fun-Campingplatz, obwohl auf großen Schildern immer wieder steht, dass Wildzelten auf dem ganzen Stadtgebiet verboten ist. Der Camping schien mir laut und hektisch und zu durchorganisiert, als dass ich mich dort wohl gefühlt hätte, so ackere ich im Nieselregen weiter die Küste entlang und überlege, was das ist mit den Menschengesetzen, in wie weit man sie hinterfragen muss, sie gar missachten, zwei, drei Wohnmobile parken direkt am Strand, es ist anzunehmen, dass die Leute dort die Nacht verbringen, obwohl es verboten ist, und so wittere ich eine Art Eigennutz, auch das darf man bei aller Gutgemeintheit von Gesetzen nicht übersehen; oft werden sie von Interessengemeinschaften gemacht, um die Welt in die Bahnen zu lenken, die ihnen zum Wohle dienen. Vebiete Wildzelten und zwinge die Leute auf deine Campings, knechte sie in deinen Hotels, mäste sie in deinen Restaurants. Ich weiß, das ist übertrieben und gesehen auf die Hochsaison wäre Camingwildwuchs definitiv eine Katastrophe. 

Vorbei an einer Disco namens Túnel, die direkt am Strand liegt, an einer gottverlassenen abgeschiedenen Straße, und ich mich frage, wie es wohl hier im Sommer zugeht, Disco und Party am Strand, wo parken all die Leute, das Kaff besteht nur aus zwei, drei Häusern und einer Eremitage, so kurbele ich daran vorbei und nach ein, zwei Kilometern durch eine erstaunlich verlassene Gegend mit verkommenen Orangen- und Olivenplantagen finde ich in einem Feldweg einen guten Platz direkt neben einem uralten Olivenbaum. Frau SoSo hatte gestern das Bild nebst Fahrrad in den Tagesnews gezeigt.

Nun sitze ich auf der Konzertbühne in einem Park bei Oropesa, wo kilometerweit der Strand zugebaut ist. Bei einem der zehnstöckigen Gebäude habe ich einmal die Appartementszahl auf 200 geschätzt mal vier Personen mal dreißig von den Dingern und im Wochenrhythmus wechselt die Belegung, wie viele Menschen werden in dieser modernen Mastanstalt wohl pro Saison durchgeschleust?

Ich glaube, hier in der Gegend stand die Bauruine, in der ich mit meinen Reisegefährten Krüger und Leb zwei Tage Sturm abgewartet hatte. Das Land war leer, nun stehen hier fünf Kilometer weit die Hotels. Es ist viel geschehen in den letzten 25 Jahren. Mir drängt sich mehr und mehr der Gedanke auf, dass wir Menschen eine Plage sind für das System Erde.

Tag #39 – Infos aus der Homebase

Heute Morgen hat es geregnet und die frisch gewaschenen Kleider mussten feucht verpackt werden. Doch später hielt sich der Regen zurück und Irgendlink kam gut voran. Nun ja, die N 340, die er eine Weile fuhr, hat ihn dann doch zu sehr genervt. Mehr LKW als je zuvor.

Die Flucht auf Uferwanderwege war der logische Schritt. Und ja, dort ging es zuweilen im Schritttempo voran. Schiebend oft, langsam fahrend meistens. Furten überquerend, das Radel treppaus, treppab hebend … Dafür hatte er Ruhe. Und die Strecke sieht, will man den Bildern glauben (und das will ich), grandios aus.

Und jetzt das: Ein Nachtlager unter einem gigantischen Olivenbaum!

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Der Weg durch die Pampa
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Mittagspausenplatz
Häuserfronten-Panorama (Benicarlo)
Häuserfronten-Panorama in Benicarló
Eine zig meter lange Hausfront in Vinaros
Eine zig meter lange Hausfront in Vinaros
Blick von Peñiscola nach Benicarlo
Blick von Peñiscola nach Benicarlo
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Mehr Meer
UntermOlivenbaum
Unter einem alten Olivenbaum

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Die Straße nach Gibraltar #Gibrantiago

Manchmal ist es schwierig, die ersten Worte für einen Blogartikel in diesem live geschriebenen Buch zu finden. Beginne ich mit dem Wummern nördlich des Zelts, das irgendwann nachts begann und sich so anhört, als würde ein Bundeswehrhubschrauber Übungen durchführen, alleine, es fehlt das unruhige Hin und Her in der Luft? Oder mache ich einen Ausflug in die Vergangenheit und erzähle von meinem ersten Ebrodeltaerlebnis, jener Nacht nahe Deltebre direkt am Fluss, als wir von einem Rascheln unter dem Zelt geweckt wurden und als wir nachschauten, entpuppte sich das Tier, es ist dringend zu empfehlen, es sich als putzige kleine Maus vorzustellen, als langsam aus seinem Loch kriechender Hummer (oder Flusskrebs, was weiß ich), müde ging er auf die Jagd.

Gestern habe ich auf Twitter einmal versucht, die Geschichte meiner Gibraltarreisen zu rekonstruieren. Ich erinnerte mich, dass ich die erste ‚Expedition‘ alleine startete. Kurz nach dem Zivildienst in einem nebligen November in der Nordpfalz. Ich hatte die Taschen voller Entlassungsgeldmillionen, und vier Monate Zeit, um mein unterbrochenes Studium wieder aufzunehmen (damals gab es noch die Wehrpflicht/Zivildienst, der Kalte Krieg lag in den letzten Zügen).

Als ich im kleinen Nordpfalzdorf bei dichtem Nebel startete, schimpfte mich eine alte Frau voran mit den (mehr zu sich selbst, aber laut genug gesprochenen) Worten ‚Der spinnt doch‘.

Die Reise ging als meine kürzeste Langstreckenradtour aller Zeiten in die Geschichte ein. Schon am Abend rief ich meine Mutter an und sie holte mich mit dem Familienkombi in der Südpfalz wieder nach Hause. Die Vorweihnachtszeit lässt die Menschen kollektiv nähebedürftig werden, schürt den Wunsch nach warmen Öfen, Lichterglanz, Harmonie, Frieden und Heimeligkeit. Damals konnte ich mich diesem Stimmungsmainstream nicht entziehen und auch heute würde es mir schwer fallen, in die Weihnachtszeit hinein eine eiskalte Radelexpedition alleine zu starten.

Im Januar 1990 startete ich den nächsten Versuch. Ich weiß noch genau, wie ich am dritten Tourtag mit meinem peruanischen Zimmernachbarn den Frühstücksraum der Jugendherberge Kehl betrat und der Jugendherbergszivi uns mit den Worten ‚Es ist Krieg‘ begrüßte.

Die Reise führte via Breisach nach Basel und von dort per Zug nach Genf, auf erbarmungslos kalten französischen Landstraßen ins Rhônetal über Vienne bis ans Meer. Den Via Rhôna Radweg gab es vor 26 Jahren noch nicht. Ich radelte über die ehemalige N86 auf der rechten Rhôneseite, die wenig befahren war.

Im Starkregen jagte mich ein Rudel Hunde nach Sète, wo ich versuchte, eine Fähre nach Marokko zu kriegen, um dem Wetterelend zu entrinnen, scheiterte und mich in der Jugendherberge einquartierte. Die Tour wäre an diesem Tag zu Ende gewesen, wenn nicht zwei weitere deutsche Radler dort einquartiert gewesen wären. Krüger und Leb, mit einem ähnlichen Vorhaben, die auch versucht hatten, eine Fähre nach Marokko zu finden. Dabei hatten sie die Rezeptionsöffnungszeit verbummelt und mussten einen Tag länger bleiben. Nur so konnten wir uns kennenlernen. Wir verstanden uns auf Anhieb. Mit Leb bin ich noch immer befreundet.

Gemeinsam radelten wir an der Küste weiter und schaffen es bis kurz vor Castellon. Dort tobte ein mehrtägiger Sturm. Zwei Tage lagerten wir in einer Bauruine. Als wir weiterradelten, hatte Krüger einen massiven Hinterradschaden. Sturmumtost und beregnet standen wir am Straßenrand und es schien keine Hoffnung zu geben, dass wir ohne Schieben weiterkommen. Leb hielt den Daumen raus. Das erste Auto stoppte. Ein Kleintransporter, am Steuer eine Englischlehrerin und ihr Mann. Sie packten uns samt Rädern ins Auto und brachten uns zum Bahnhof in Castellon.

Wetter und Panne hatten uns so arg zugesetzt, dass wir die Reise in Castellon beendeten. Krüger und Leb trampten zurück und ich nahm wieder das Taxi Mama und Papa in Anspruch, das nahe Calpe in einer Ferienwohnung auf mich wartete.

In den 1990er Jahren gab es noch einen weiteren Versuch, nach Gibraltar zu radeln, gemeinsam mit meiner Freundin I. Es muss in einer Weihnachtszeit gewesen sein, entweder 1990/91 oder 1992/93? Ich erinnere mich, dass wir nach dem ersten Tourtag mit völlig verschlammten Schuhen auf dem Weihnachtsmarkt in Speyer drei Bettlern begegneten, die auf uns einredeten, ‚könnt ihr doch nicht machen, mit solchen Schuhen hier auftauchen, die Schuhe sind das Wichtigste‘, wie drei Heilige aus dem Morgenland kamen sie mir vor. Diese Reise endete in Peñiscola. Mit in Mülltüten als Handgepäck verpackten Fahrrädern kehrten wir per Zug zurück nach Basel.

Ab dem Jahr 2000 hatte ich meine Reisegewohnheiten geändert und die Kunst hatte Einzug gehalten im Hause Irgendlink. Das Ziel war nicht mehr so wichtig, sondern die Kunstproduktion unterwegs und der Genuss. Unter dem Stichwort ‚Zweibrücken-Andorra‘ sind zwei Reisen im Internet dokumentiert, die auf wenig befahrenen Departementsstraßen Frankreich von Nord nach Süd durchqueren. Der Weg wurde in zehn Kilometer Abständen als sogenannte Kunststraße dokumentiert, so wie es auch auf der jetzigen Reiseroute der Fall ist.

Gerade stoppe ich das schwer bepackte Reiserad. Der Wind steht schräg gegen mich aus Süden. Die Sonne brennt. Eine Kette hölzerner Strommasten links der Straße führt das Auge streng Richtung Horizont. Die Leitungen summen im Wind. Die Luft ist schwer und sie schmeckt nach Salz und nach Kräutern und nach Blüten und es ist ihr ein bisschen Staub beigemischt, den ein Traktor fernab in den hellbraunen Äckern aufwirbelt. Hellblau und braun sind die dominanten Farben. Ab und zu hebt sich ein Haus, das nächste Dorf, El Muntell, ist nur schemenhaft zu erkennen. Hier gibt es eigentlich nichts, als Horizont, Himmel, Erde und mittendrin ich, so verloren, so verbissen die Kunststraße fotografierend. Um die 240 Mal schon habe ich in zehn Kilometer-Abständen das Radel gestoppt, um die Straße zu fotografieren, genau wie Google das 1995 von mir abgeguckt hat und das System mittels millionenschwerer Technik perfektioniert hat. So denke ich manchmal, wenn ich über die Kunststraßenfotografie nachdenke. Ich habs erfunden und Google hat es im Netz entdeckt und nachgemacht. Aber das stimmt wahrscheinlich nicht. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Idee so normal ist, dass auch andere Leute darauf kommen, wie ich sowieso denke, dass Ideen ihre Zeit finden und dann gedacht werden und dann realisiert werden und dass es viele verschiedene Menschen sind, die zu ähnlicher Zeit ähnliche Ideen haben, weshalb, so mein trauriger Rückschluss, das Urheberrecht eigentlich kleingeistiger Quatsch ist, denn Ideen, die kollektiv in verschiedenen Köpfen entstehen, könnten auch verschiedene Wachstumsformen ausbilden. Das heißt, wenn per Menschengesetz einer als Urheber einer Idee bestimmt wird, wird allen anderen, die eine ähnliche Idee haben (oder eine Idee weiterentwickeln wollen) das Wachstum ihrer Idee untersagt.

Okay, es ist natürlich auch ein Problem, dass es genügend Ideendiebe gibt. Übel im Kerngehäuse des Menschseins.

Ich schweife ab. Hinter dem Traktor hat sich eine Schar weißer Vögel versammelt, die die frisch aufgerissene Erde nach Nahrung durchwühlen. Vorne links zeichnet sich ein Wäldchen ab. Ist das der berühmte Eukalyptusstrand,von dem mir gestern der Berner Radler Stefan erzählte, er sei eine Mogelpackung, den Eukalyptusstrand gibt es gar nicht, da stehen nur ein paar Bäume und es ist viel Sand dort?

Noch fünf Kilometer bis dahin.

Die Reiseroute habe ich morgens spontan geändert, eigentlich könnte ich schon längst Richtung Castellon unterwegs sein, aber ein Radwegschild lockte mich ab Tortosa ins Ebrodelta. Ich bereue das nicht. Der Radweg führt über geteerte Feldwege in einem Zickzack-Kurs bis zur Ebromündung. Die Gegend ist wunderschön. Schon stelle ich mir vor, dass auf den Feldern bald Reis wachsen wird, dass sie sie irgendwie fluten, quadratkilometerweit, aber wie das vonstatten gehen soll, kann ich mir nicht vorstellen, da ereicht mich per Twitter eine Botschaft von @RecumbentTravelling, er sei 2004 hier durchgeradelt und überall wuchs Mais.

Ich könnte fragen, was hier angebaut wird. Am Eukalyptusstrand steht jedenfalls ein Schneckenpumpwerk, mit dem man gewiss etliche Tonnen Wasser abpumpen könnte.

Der Eukalyptusstrand erweist sich als die Mogelpackung, die mir Stefan prognostiziert hatte. Es gibt eine Urbanisation, eine Feriensiedlung, und einen Campingplatz, der tatsächlich von Eukalyptusbäumchen bewachsen ist. Aber der kilometerweite Strand, an dem die Bäume haushoch bis ans Wasser wachsen, der in meiner Vorstellung existierte, platzt mit unhörbarem Pöff.

Der Strand ist trotzdem großartig. Hunderte Meter breit, zig Kilometer lang. Zwei fahrbare Pisten sind angelegt, auf denen sich monströse Vierradfahrzeuge tummeln. Blechgewordene Männerphantasien mit hochgelegtem Luftansaug zum tief ins Wasser fahren und sie tummeln sich wie junge Hunde, balgen sich, fahren Rennen, ziehen Kreise, malen Spuren im Sand. Das spanische Männlein in Action.

Auf dem Camping quartiere ich mich trotz des hohen Preises von 24 Euro ein. Der Platz steht in vollkommener Kapitalisierung. Es gibt nichts, was nichts kostet. Strom am Platz 4,10 Euro, einmal Handy an der Rezeption laden siebzig Cent, fehlt noch, dass man am Handwaschbeckenföhn Münzen einwerfen muss, oder sich für einen Cent pro Blatt Klopapier aus einem Automaten ziehen kann.

Ich kaufe mich frei. Einfach um mal wieder einen Tag Ruhe vor Hunden und Lagerplatzsuchstress zu haben. Duschen und Waschen wäre auch nicht übel.

Und der Hubschrauberlärm? Es könnten Fischerboote gewesen sein. Nun herrscht jedenfalls Stille.

Tag #38 – Infos aus der Homebase

Ein Tag in Bildern? Gerne! Zumal bei diesem Bilderbuchwetter. Die Sonnenkollektorenhandyladung ist gesichert. Dennoch braucht auch die Nikon mal wieder eine Volltankung ab Steckdose. Drum und überhaupt und weil auch eine Dusche mal wieder gut tut, hat sich Irgendlink heute auf dem Camping am Eukalyptus-Strand eingebucht. Und mal wieder Sockenwaschen kann ja auch nicht schaden.

Tortosa von der Radwegbrücke
Außerhalb Tortosa Namensschild vor einem ‚Mas‘, einem Hof.
Graffiti nahe L’Aldea
Ebrobrücke in Deltebre. Die linke Hälfte der Brücke ist für Radler und Fußgänger mit Parkbänken.
Viel Weite im Ebrodelta. Ein Genuss, auf kaum befahrenen Straßen zu radeln.

Zum heutigen Track bitte hier ⇒ klicken. (Wegen Netz-Unterbrüchen kann die angezeigte Totallänge vom real gefahrenen Wert abweichen.).

Zur klassichen Version der heutigen, ungefähren Etappe bitte hier ⇒ klicken.