Nur ein quantenphysisches, eigenartiges Experiment in einem Camp-like-State #Gibrantiago

Wenn ich den Weg zurückschaue, immerhin eine Woche bin ich schon unterwegs nach Süden, so hat sich von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, manchmal sogar von Minute zu Minute ein unvorhersehbares Etwas entwickelt, das mich selbst in Erstaunen versetzt.

Vorgestern Abend etwa stehe ich vor der Anzeigetafel für die Züge am Bahnhof von Laissey und starre den riesigen Monitor an, auf dem die Züge angekündigt werden. Man kann von hier aus nach Besançon, nach Montbéliard, nach Dijon und nach Belfort fahren. Stündlich gehen die Züge und wenn ich den nächsten Richtung Basel (via Montbéliard) kriegen will, muss ich das Radel nur durch die Unterführung schieben und einfach einsteigen. Automaten gibt es keinen. Das Bahnhofsgebäude ist vernagelt, stillgelegt. Offenbar kauft man die Fahrkarten im Zug.

In diesem Moment, die Anzeigetafel betrachtend, bin ich in einem eigenartig überlagerten Zustand zwischen Zugfahren und auf dem Flussradweg weiterradeln. Fast wie ein quantenphysisches Teilchen, von dem die beobachtenden Wissenschaftler nicht wissen, wie es sich verhalten wird. Selbst ich weiß es nicht.

Es ist somit ein Wunder, dass ich einen Tag später in einem Café in L’Isle-sur-le-Doubs sitze, wieder in so einer Art ‚Cat like state‘ (Schrödingers quantentheoretisches Experiment mit der Katze lässt grüßen) – was werde ich als nächstes tun? Es schneit fette Flocken pappig nassen Schnees und alle Vernunft sagt, geh zum Bahnhof, nimm den Zug nach Basel. Ich trinke Kaffee. Das Radio beschallt den Raum mit Reggaemusik. Am Tresen steht einer und raucht. Derweil kurvt der nagelneue Kehrroboter der Bedienung durch den Raum und fegt die Kippen auf und die Papierchen vom Zucker. Ein zweiter Kaffee. Ich frage die Tweetosphäre (per Kurznachricht auf Twitter), wie es wohl weitergeht. @der_emil erklärt mir den Weg zum Bahnhof. @wortvoll meldet Wetterbesserung ab 15 Uhr. Und tatsächlich, der Schnee lässt nach. Das quantenphysische Teilchen namens Irgendlink nimmt den Zustand Radler an, statt, wie der imaginäre Wissenschaftler wohl vermutet hätte, Bahnfahrer.

Weiter gehts auf dem wunderbaren Flussradweg Richtung Montbéliard (die alte württembergische Exklave Mömpelgard, wie mir @jot_el vor einigen Tagen erklärt hat).

Der Schnee kommt nicht wieder bis abends 18 Uhr. Schon habe ich Mömpelgard durchquert, passiere schweren Herzens ein Buchsbaumlabyrinth in einem Park (was wäre ich darin gerne eine Weile umhergeirrt, aber wegen der Nähe der Dämmerung will ich mich schnell aus der Stadt schaffen und einen Zeltplatz oder ein Zimmer finden).

Drei andere Radler begegnen mir. Nicht glücklich sehen sie aus in ihren Regenklamotten und mit Rucksäcken und Packtaschen. Gegen 18 Uhr schaue ich mich nach einem Zeltplatz um und in einer Apotheke, in der ich um Wasser fragen will, frage ich aufs Geratewohl auch nach einem Zimmer im Dorf und die Apothekerin nimmt beherzt das Telefonbuch, sucht eine Nummer, wählt, während ich quantenphysisches, eigenartiges Experiment mich von einem ‚Camp like State‘ in einen ‚Bed and Breakfast like State‘ begebe. Schwupp habe ich ein Zimmer im kleinen Dorf Bourogne: über die Brücke bis zur Épicerie, links ab zum alten Waschhaus und da direkt gegenüber, Coté Grange.

Wo hätte ich vor einer Woche, als ich aufbrach mit dem Plan, östlich der Vogesen am Rhein entlang zu radeln, gedacht, dass ich westlich der Vogesen auf Kanalradwegen radele?

Hätte, hätte, Fahrradkette. 

Mein heutiger Plan: per Radel via Mulhouse bis nach Basel Badischer Bahnhof und dort per Zug nach Laufenburg fahren. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es so kommt.

Irgendwo streichelt jetzt bestimmt ein alter, verwirrter Quantenphysiker seinen weißen Bart und wundert sich.

Vom Ziel, sich das Ziel abzugewöhnen #Gibrantiago

Schneidersitzbüro. Blaues Bettlaken. Füße liegen kalt an Oberschenkeln. Ein echtes Bett. Ich bin bei Frau SoSo, praktisch wie daheim. Gestern in der Abenddämmerung holte sie mich mitsamt Radel und Gepäck in Kaiseraugst unweit von Basel ab. Das war so geplant wegen des Wetters, wegen der Verzögerungen, die sich die letzten Tage wegen des Märzwintereinbruchs ergeben haben. So stehe ich nun am vorläufigen Ende einer Kette von Unwägbarkeiten. Ein von Zufällen zusammengewürfeltes Etwas. Ebenso unvorhersehbar, wie im Nachhinein mit dem Prädikat ’so musste es doch kommen‘ versehen.

Hätte hätte, Fahrradkette. Die Unberechenbarkeit des Radreisens macht es auch gleichzeitig so spannend. Ich hätte nicht gedacht, dass ich die Vogesen westlich umradele – vor Reisebeginn. Ich hätte nicht erwartet, dass das Wetter sich so nachhaltig verschlechtert, während ich auf wunderbaren Fernradwegen um die Vogesen ächtze. Drei Tage Regenwetter mit vereinzelten Aufheiterungen. Auch das hätte ich nicht gedacht. Dass sich mitten im Schneegestöber in Vennans oder in L’Isle-sur-le-Doubs doch noch ein Wolkenloch auftut, das für ein zwei Stunden regen- oder schneefrei Radeln ermöglicht, kam auch unerwartet (zum Glück geschah es so).

Wenn man beim Radeln ein Ziel hat und einen festen Termin, an dem man das Ziel erreichen möchte, kommt man unweigerlich unter Druck. So hatte ich etwa vor Reisebeginn letzten Freitag das vage Ziel, donnerstags darauf bei Frau SoSo anzukommen, dreihundert Kilometer entfernt, wenn man den direkten Weg nimmt. Also bequem in einer Woche zu erreichen, nahm jedoch den chaotischen Weg, den man hier im Blog in den Tagesetappen nachvollziehen kann westlich der Vogesen. Zum einen, weil anfangs das Wetter noch ganz okay war und ich mich nicht ins Rheintal verkriechen müsste, zum anderen, weil ich im Rheintal schon so oft geradelt bin, dass es ein reines Abradeln würde, ein pures Streckemachen, kurzum, ich wollte neue Wege gehen. Und ich ging neue Wege. Die Rechnung ohne die Vogesen gemacht, denn in dieser Jahreszeit zählt jeder Höhenmeter. In den Bergen wird es unweigerlich ungemütlich. Die Tour geriet zu einer Art Vogesenvermeidungstour. Eben hatte ich noch die Chance, am dritten Reisetag den Radweg nach Abreschwiller zu nehmen, mitten hinein ins Gebirge, da gebot mir die Vernunft Einhalt, tu‘ das nicht! An den Westhängen der Berge werden sich die angekündigten Wolken als erstes ausregnen oder -schneien, und so holte ich weit aus, begab mich auf die alte Strecke, die ich schon 2000 und 2010 radelte durch kühles, nasses Weideland, entdeckte den Flussradweg Nr. 50 am Canal de l’Est. Ich möchte die 70 Kilometer Wohlfühlradeln nicht missen, auch wenn danach exzessives Regenradeln angesagt war.

Die Straße nach Gibraltar ist ein einziges, jahrzehntelanges Weg-sich-winden.

Der Schlenker über die Schweiz bedeutet immerhin gut dreihundert Kilometer Umweg. Dennoch ist er ein Teil der Strecke, denn es geht ja nicht um den geraden Weg und es geht auch nicht ums Ankommen. Das muss ich mir immer wieder klar machen und das hätte ich mir in den letzten beiden Tagen auch besser hinter die Ohren schreiben sollen, denn sobald man, insbesondere als schwerbepackter Reiseradler, sich ein Ziel und einen Termin setzt, gerät man unter Druck. Und Druck ist nicht gut fürs Wohlbefinden. Darunter leidet nicht nur der Körper, der sich verkrampft. Das Gemüt leidet mit. Mit den Augen gegen den Wind eine Steigung hinauf versuchst du, ein Ziel herbeizuzerren, das du dir selbst gesteckt hast. Und auch die Kunst leidet darunter. Du verkneifst Dir so manche Fotopause vor malerischer Landschaft. Regen und Wind tun ihr Übriges, das sind Unabdingbarkeiten. Das selbstgesteckte Ziel ist das, woran du arbeiten musst.

So kurbele ich gestern über den Eurovelo 6 immer am Rhein-Rhone-Kanal entlang Richtung Sundgau und weiter nach Mühlhausen, mit dem Ziel, mich abends mit Frau SoSo zu treffen, siebzig, achtzig Kilometer weit irgendwo in der Nähe von Basel. Durch die vage Verabredung gerate ich ganz schön unter Druck. Ich spüre wie der Körper sich zusammenzieht, wie ich einen Tick jenseits der Gemütlichkeitsgrenze ein bisschen zu schnell kurbele, ein paar Pausen zu wenig mache. Wie ein unsichtbares Band spannt sich etwas zwischen mir und dem selbstgesteckten Ziel. Schneeregen. Ein nichtfertiger Radweg in Mühlhausen, der kilometerweit über Innenstadthauptstraßen führt. Spritzwasser und Dieselrußgestank. Miese Beschilderung. Radirrwege, geschickt angetäuscht, und erst wieder ab Rixheim am Kanal ein brauchbarer, ruhiger Radweg. Pause unter einer Autobahnbrücke. Ein Radler im Militärponcho steht zum Abtropfen, so wie auch ich. Wir halten ein Schwätzchen. Bis Rheinfelden, jenseits von Basel seien es noch 30 Kilometer, sagt der Mann. Zwei Stunden Regenradeln. Ich bin nun in einem Zeitfenster, in dem ich eine konkrete Verabredung mit Frau SoSo in Betracht ziehen kann. Termin 18 Uhr am Schweizer Bahnhof in Rheinfelden. Deal.

Traue nie einem Dahergeradelten, scheinbar ortskundigen Radler im Regen im Tarnanzug … durch die Petite Camargue, ein Naturschutzgebiet am Canal de Huningue ächtze ich gen Basel. Versuche mit den Augen den Tacho Kilometer um Kilometer zu bewegen. Das Problem ist im Kopf. Die Spannung, die aus diesem Voranstreben und dem unbedingt dann und dann Ankommenwollen resultiert, die ist echt. Achtzehnuhrdreißig, gebe ich Frau SoSo per SMS Bescheid und auch das wird knapp. Gegenwind. Ungeteerte Kanalwege. Umleitungen. Hindernisse, die nicht in Kongruenz mit Ziel und Zeit stehen. Ich lerne viel über das Vorankommen unterwegs, im Leben, allgemein, auf diesen dreißig Kilometern, die keine sind, sondern mehr. ‚Man sollte viel öfter solche Reisen machen und seine Rückschlüsse daraus ziehen, was mit Körper und Geist passiert, was sie auslösen in einem, diese Reisen‘, konstatiere ich in Basel. An einer Hauptstraße mache ich das obligatorische Zehn-Kilometer- Streckenfoto. Ein ruhender Pol, alle zehn Kilometer. Im Gegenzug auch ein Störfaktor, wenn man vorankommen will. Je nachdem, ob man es aus der Sicht des Zielerreichenwollers sieht, oder aus der Sicht des Sichentspanners.

Theorie.

In Basel verschieben wir den Treffpunkt noch einmal, von Rheinfelden nach Kaiseraugst. Für Frau SoSo spielt es ja keine Rolle, ob sie mit dem Auto fünf Kilometer weiter fährt. Der Treffpunkt in einer Pizzeria klappt prima.

Nun werde ich ein paar Tage Pause einlegen, werde auf den Frühling warten und mich dann am Jura-Südfuß über Biel-Bienne und Yverdon zum Genfersee schaffen, von wo aus mein Plan ist, der Rhone bis zum Mittelmeer zu folgen. Laut Wetter-App bessert sich das Wetter am kommenden Freitag.

Fellpflege 2.0 im Basislager Aargau #Gibrantiago

Nach acht Tagen Radelns ruhe ich mich nun in der ‚Homebase‘ im Aargau eine Weile aus und betreibe, wie man so schön sagt, ein bisschen Fellpflege.
Der Schaltzug, der am fünften Reisetag gerissen ist, und den ich vergeblich versuchte, in einem zugigen Bushäuschen im Sundgau zwischen Vogesen und Jura zu reparieren, will endlich ausgetauscht werden. Öl für Kette und Schaltwerke. Wäsche waschen. Akkus laden. Überschüssiges Gepäck aussortieren. Allgemeiner Systemcheck.
Außerdem habe ich die Bilder, die mit der Nikon Kamera geschossen wurden auf einen Leihcomputer bei Frau SoSo kopiert und sie mittels eines GPS-Correlators mit Koordinaten versehen. Das Feintuning der Bildstandorte habe ich auf meinem Panoramio-Account gemacht (etwa vierzig Bilder).
Die mitgeschnittenen Tracks, die Frau SoSo in der letzten Woche täglich hier im Blog postete, sind nun in untiger Googlemap vereint und die Lücken, die durch Signalschwäche entstanden sind habe ich geschlossen. Die rote Linie ist die per Auto zurückgelegte Strecke.
Ich betreibe Fellpflege 2.0 sozusagen, ich Schnurrkatze des digitalen Reiseschriftstellerzeitalters, ich. Weiter geht die Radtour nach Gibraltar nächste Woche, sobald das Wetter sich verfrühlingt.

Reverse Mailart – erste iDogma-Postkarten sind unterwegs #Gibrantiago

Erste iDogma-Postkarten sind unterwegs. Vielen Dank liebe Kunstfreunde und -freundinnen.

Bisher habe ich eine Karte pro Reisetag verschickt. Alle Karten sind Unikate mit individuellem, persönlichem Text. Die Postkarten wurden auf dem Smartphone gestaltet und mit einer Postkartenapp versendet. Die Postkarten sind auf der Rückseite nummeriert.

Es handelt sich um eine Art Reverse Mailart. Im Gegensatz zur herkömmlichen Mailart, bei der viele Absender an eine Empfängeradresse senden, mit dem Ziel einer Mailartausstellung, werden bei der Reverse Mailart von einem Absender Postkarten an viele Empfänger versendet.

Während der Reise ans Nordkap im letzten Sommer versendete ich 169 Postkarten in viele verschiedene Länder.

Das Ziel jedes Ankommens und das Ziel jedes Abreisens

Wieder diese Abreisenervosität. Es sind definitiv zwei Welten, zwei Leben, die ich lebe. Das wohlige Zuhauseleben mit seinem geregelten Alltag, den warmen Mahlzeiten, Betten und Wohnungen, der Immerverfügbarkeit von Strom, Warmwasser und Dachüberdemkopf und das unstete Unterwegssein mit Fahrrad und Zelt, in Siebzig- bis Hundertkilometerabständen vorwärtsstrebend. Wohin, wohin, wohin? Wozu, wozu, wozu?

Beides sind gute Leben. Beides sind gute Daseinsformen. Aber der Wechsel zischen diesen Lebenssphären, der regt mich auf, insbesondere derjenige, vom ’stationären‘ Alltag in den unsteten Alltag des Unterwegs-Reisekünstlers.

Dabei dauert es nur einen kurzen Moment, bis man sich – bis ich mich – vom daheim in Sicherheit lebenden Menschen in den Reisekünstler verwandele. Ich muss nur die vier Packtaschen ans Radel hängen, die Radlerklamotten überstrippen, mich auf den Sattel setzen, mich nach den Lieben noch einmal umdrehen, die mir winken, zurückwinken, Tränen, gewiss, und nach ein, zwei Kurven, nichteinmal einen Kilometer weiter, bin ich schon wieder mitten drin im mantrischen Tritt, der die Hirnmühle verlangsamt, sie normalisiert, und der einen den manchmalen Hickhack des anderen, des stationären Alltags vergessen (oder verdrängen?) macht.  Über den Übergang habe ich letzten Sommer schon einmal geschrieben, während der Reise ans Nordkap in einem anderen Zusammenhang.

Annahme: Das Ziel einer jeden meiner Reisen ist der Stillstand. Nicht unbedingt das Ankommen an einem bestimmten Ort, genannt Ziel, sondern tatsächlich so langsam zu werden, dass sich die gelebte Gegenwart und mit ihr ihre glättende Wirkung, die die Seele zur Ruhe bringt, so weit wie möglich ausbreitet und dass man die Zeit vergisst und sich so eine Art Ewigkeit inmitten der Endlichkeit erkämpft, die man sonst nirgends leben kann.

Im Gegenzug ist vielleicht das Ziel eines jeden Ankommens und des damit einhergehenden (Da)Seins, innerlich in Bewegung zu geraten, in Schwingung?

Ich weiß es nicht. Am Vortag der Weiterreise nach Gibraltar bin ich jedenfalls ziemlich nervös. Ich habe eben mit Freund Marc in Biel-Bienne telefoniert. Wahrscheinlich schaffe ich die etwa hundert Kilometer auf der Schweizer Mittellandroute an einem Tag (ohne Gepäck und untrainiert habe ich es vor zwei Jahren ja auch geschafft). Er und seine Frau Rossana erwarten mich morgen Abend. Beide sind international künstlerisch tätig und knüpfen an einem weltweiten Netz gemeinsam malender Künstlerinnen und Künstler (Col-Art).

Begegnungen

Der Typ, der einen potemkinschen Sturm vorhersagte in Lemberg an Tag zwei der Reise, fünfzig Kilomter pro Stunde aus Osten. Sportradler, Titanrahmen, winziger Rückspiegel am Fahrradhelm, ich würde nicht durch den Wald radeln, ruft er hinter dir her, doch du trällertest längst ein Shallala und erfreutest dich an kaltblauem, nimmertrübbarem Himmel.

Zwei Steppkes in der Nähe des Flugplatzes Lunéville wie sie fröhlich über die Straße riefen, Bonjour Monsieur, zwanzig Meter weit weg und du antwortetest Bonjour, ça va, und sie dich in ein Gespräch verstrickten, woher, wohin und wieso nicht mit einem Elektrorad, das wäre doch viel leichter zum Vorwärtskommen.

Unzählige Bäckerinnen in unzähligen Boulangerien, wie sie sich alle unsiono von dir anhören mussten: Une Baguette s’il vous plaît. Vous avez Pizza? Quiches? Croques Monsieurs? Irgendwas Salziges bitte? Na gut, dann Éclaires.

Jener wehende, schwarze Gothic-Mantel auf dem Zweibrücker Herzogplatz, du nähertest dich ihm von hinten, gerade mal vier Kilometer im Sattel, ein Typ wie Darth Vader mag sich dahinter verstecken, mutmaßtest du und dein Blick schweifte zum Bismarckdenkmal und schon bist du vorbei an dem Kerl im Gothic-Mantel, der fast auf dem Boden schleift. Neugierig drehtest du dich um und schautest in das gutmütige Gesicht eines rothaarigen Kerls mit SOLCH einem Bart, der gut und gerne gerade einem Asterix-Comic entsprungen sein könnte, trüge er nicht diesen Mantel.

Madame Magaud aus der Pilgerherberge, irgendwo unweit von Vesoul, wie sie gegenüber am Tisch saß, dir beim Frühstück Gesellschaft leistete und von ihrem Leiden erzählte. Seit August letzten Jahres ein Krankenhausaufenthalt nach dem anderen, und nun habe sie ein künstliches Kniegelenk und sie geht ziemlich schwer, gekrümmt, wie gerne sie einst Fahrrad fuhr, aber nun geht das nicht mehr. Lecker schmecken ihre kreativen Marmeladen, in die sie allmögliches Zeug pürriert, Karotten, Zucchini, Früchte, alles, was vermatschbar ist, Substanz hat und sich süßen lässt.

Gerade eben erblicktest du das riesige Boulangerie-Werbegemälde an einer Hauswand jenseits des Canal de l’Est und verpürtest Lust auf Pizza, irgendwas Salziges oder ein Éclaire und überlegtest, der ausgeschilderten Route dahin zu folgen, unter einer Brücke unter dem Kanal hindurch, Bains-les-Bains ist nicht mehr weit, zurück ins Dorf, man muss ja die kleinen Geschäfte in den kleinen Dörfern unterstützen, aber halt, halt halt, da gebietet dir die Vernunft Einhalt, eh du zurück fährst gegen den Wind, frag‘ doch den Mann, der sich da unten auf der Böschung abrackert mit dem Weidezaun, ob der Bäcker überhaupt auf hat. Ein altes Männlein stand im eiskalten Nordwind und zerrte Maschendraht aus Wiese und du riefst hinunter und er verstand dich nicht und du besannst dich und riefst lauter, kann ich ihnen helfen, anstatt: ist die Bäckerei auf, radebrechend, brachialfranzösisch und schon hattest du das Radel auf dem Kanalradweg abgestellt und ächztest hinunter, wo er dich dankbar durch den Sehschlitz, den seine Woll-Vermummung freigab, anschaute und gemeinsam zogt ihr den Zaun heraus, befreitet ihn von Gras und Gestrüpp. Nein, die Bäckerei ist zu. Es ist Montag, halb drei, aber da, cinque Kilomètres in diese Richtung, zeigte dir der Mann gestikulierend, im nächsten Dorf, da gibt es einen Distributeur, einen Brotautomaten.

Ein knallrotgesichtiger Typ unweit von Épinal schob sich dir mit fünf Kilometern pro Stunde wandernd entgegen. Aufaddiert mit deiner Radelgeschwindigkeit rauschtet ihr mit zwanzig Sachen aneinander vorbei. Wie lange dauert eine Begegnung, fragtest du dich. Was nimmt man dabei wahr?

Claire, herrliche Claire, die dich nicht auf dem nur für Wohnmobile zugelassenen Campingplatz von Clerval zelten lassen mochte und stattdessen eine halbe Stunde von Hotel zu Hotel telefonierte, von Pension zu Pension, von Gîte zu Gîte und dir ein wunderbares Zimmer aushandelte für 45 Euro pro Nacht, Sonderpreis, weil sie die Wirtin kennt und du ihr schließlich so dankbar warst, denn es wurde bitterkalt in der Nacht und so ein Zelt zwischen lauter Wohnmobilen ist wie ein Straßenköter bei der Leistungshundeschau, nichtwahr?

Unzählige Motorradfahrer an Tag zwei um La-Petite-Pierre.

Stoische Angler hin und wieder an den Kanälen, an der Mosel, am Doubs, an allem, was irgendwie fließt, steht, tief genug ist, um Fische zu enthalten. Mühsam rangst du ihnen Gruß um Gruß ab.

Drei Reiseradler in der Industrieanlage östlich von Montbéliard, Hunde bellten dich aus der Stadt und, zisch, sind die Radler an dir vorbei, ohne auch nur Anstalten zu machen, zu stoppen und nach dem Woher und Wohin zu fragen. Es war kalt, es hatte den ganzen Tag geregnet und geschneit und die bedauernswerten Kettenhunde in ihren hektargroßen, fein abgezäunten Industriegeländepferchen, die dich aus der Stadt hinausbellten, werden sie nun hineinbellen.

Eine Apotheke, heureka, eine Apotheke, in der du um Wasser fragen könntest fürs abendliche Zeltlager, denn hier auf den Dörfern nahe des Sundgaus, irgendwo zwischen Vogesen und Jura, wirst du doch bestimmt kein Zimmer kriegen, oder etwa doch? Beherzt griff die Apothekerin zum Telefonbuch, blätterte, fand eine Nummer, wählte, nickte, lächelte dich an, nahm einen Zettel, es roch nach Medizin, skizzierte den Weg zu der Herberge, die sie dir gerade ertelefoniert hatte.

Telefonbücher, überhaupt! Wieviele Seiten hat man für dich in diesen ersten acht Tagen der Reise gewälzt?

Marguerite-Marie und Dominique. Hättest du gedacht, dass du schon am dritten Reisetag französisch Konversation betreiben würdest, die weit über das Woher und Wohin und das Guten Tag und Aufwiedersehen und das Wie viel kostet das, ich hätte gerne hinausgeht? Sie luden dich in ihr Haus an der Mosel ein. Herrlich, ihnen zuzusehen, wie sie eigens für dich ein riesiges französisches Bett bezogen, das ist gar nicht so einfach, und du sagtest ihnen, das wäre ein Fall für die Sendung Carambolage auf Arte, die die Eigenarten der Franzosen und der Deutschen miteinander vergleicht. Französisch gebettet schliefst du wie … na, sie wissen schon.

Diese erholsamen Ruhetage im schönen Aargau hier nun bei Frau SoSo, jeden Tag das gleiche Spiel mit dem Nachbarn wie er abends nach der Arbeit nach Hause kommt, zum Briefkasten geht, ihn aufschließt, die Post rausnimmt, den Kasten wieder zuschließt, graue Kleider trägt er, zur Haustür geht, aufschließt, im Treppenhaus verschwindet, langsam die Tür zufällt, es ist 17:30 Uhr.

Plötzlich Komma #Gibrantiago

Plötzlich, ein neues Land. Sätze, die mit „Plötzlich Komma“ beginnen sind mir spätestens seit 2010 lieb und teuer. Frau SoSo und ich tourten kreuz und quer per Auto durch Skandinavien und eines Tages geriet uns ein Tourismusprospekt in die Hände, in dem einer der wohlpreisenden, landschaftsverherrlichenden Sätze mit den Worten „Plötzlich, eine neue Gegend“ lautete.

Ein Insider, dieser Spruch, sozusagen.

Dass ich in einem neuen Land radele (obschon ich ja letzten Freitag auch schon ein paar Kilometer Schweiz in der verstädterten Zone um Basel absolviert hatte), wird mir spätestens klar, als ich mich in Brugg auf den Aareradweg schwinge und durch Auen und frühlingsergrünende Wälder nach Westen radele. Die Beschilderung ist perfekt. Fast wie auf dem deutschen Autobahnnetz. Sowohl die kleineren Orte sind ausgezeichnet, als auch die große Richtung. Bis Aarau sind es 31 Kilometer. Ich radele auf den Radwegen 5 und 8 durchs Mittelland. An Radwegekreuzungen stehen zudem Tafeln mit Landkarten und der Oberhammer: falls der Radweg nicht passierbar ist, wird eine Umleitung ausgeschildert. Wegen der Stürme und des üblen Winterwetters, treffe ich auf etliche Umleitungen. Zweimal sogar mit eigens vom Universum bereitgestellten Engeln in Bauarbeiterkörpern, die ich fragen kann, kommt man denn da mit dem Radel durch und sie nicken, aber ja, radeln sie nur weiter, junger Padawan, bzw., da gibt es eine Fußgängerbrücke, was mir den Umweg über Landstraßen erspart.

Die Schweiz ist ein seltsames Land. Es ist so perfekt durchorganisiert, so sauber, freundlich, friedlich, hilfsbereit, so, als würde man mitten in einem wohligweichen sofagewordenen Lächeln Platz nehmen und sich für immer ausruhen können. Aber es ist auch hektisch, das Land. Vom Radweg aus beobachte ich die Verkehrsströme, die Autobahnen, die Bahnlinien und Landstraßen, die Schul- und Linienbusse, unaufhaltsam, wie gepumpt wirkt das alles. 2014, als Frau SoSo und ich zum Gotthard hinauf wanderten, wurde mir diese Zwiespältigkeit erstmals bewusst: ein übervolles Land, das nach und nach zugebaut wird und in dem sich die Menschen in den Tälern dicht an dicht drängen, in dem die richterlichen Verbote wie Krokusse aus dem Boden sprießen. Oft findet man Tafeln vor Grundstücken und Hofeinfahrten, auf denen kleingedruckt die gesetzlichen Beschlüsse, wer wann wie das Grundstück betreten darf, erläutert werden, inklusive Aktenzeichen. Alles wird geregelt, damit man es pumpen kann.

Die Hänge im Aargau zieren zunehmend mattenartige, hunderte Meter lange, terrassenartige Wohnanlagen, die vom Tal hinaufzüngeln bis zu den Waldrändern.

Ich komme gut voran. Kurz vor Aarau erklärt mir einer den alten Römerpass, der hinüberführt ins Fricktal. Unheimlich steil sei die Straße. Die solle ich nicht nehmen. Ich bin doch nicht verrückt, sage ich, und dass ich mich stets an die Flusstäler halte. Aarau, Olten, Aarberg, zwischendurch ein unheimliches Atomkraftwerk. Nachdem ich es passiert habe und mir aus der Ferne die Dampfwolke aus dem Kühlturm betrachte, die die Sonne verfinstert, kommt es mir vor wie die kleine, vermenschlichte Dampflok aus einem Disneyfilm, mit großen Kulleraugen und einem Grinsen und die Dampfwolken stehen stoßweise im Himmel. Geschäftigkeit, Geschäftigkeit, Geschäftigkeit. Pumpe, Pumpe, Pumpe. Das ist die Schweiz. Das ist das Menschenmiteinander. Das ist die Welt (im alten Irgendlink-Blog hatte ich mal einen Artikel über die Pumpenhaftigkeit allen Seins geschrieben. Der verliert nie seine Aktualität).

Aber dann auch wieder die Zwischenwelt, wie wir sie im wilden Reusstal erlebten und wie ich sie auch hier auf den noch fast leeren, vorfrühlinghaften Radwegen erlebe. Kaum Menschen. Kaum Konfliktpotential. Man kann frei atmen und sich vorstellen, man wäre allein im ganzen Land. Ich gebe zu, dafür braucht es sehr viel Phantasie.

Solothurn. 17 Uhr. Noch dreißig Kilometer bis Biel-Bienne, meinem Tagesziel, wo ich bei meinen Freunden Marc und Rossana übernachten kann.

Solothurn liegt an der Aare. Es hat einen absolut unförmigen, ich glaube fünfeckigen alten Turm mit spitzem Dach. An der Aare hunderte Meter lange Häuserfronten. Schöne, alte, gepflegte Bauwerke. Vier Gören, kaum vierzehn, die sich demonstrativ Zigaretten anzünden und dort, wo die Sonne ein zig Meter langes Straßencafé mit Außensitzbereich trifft, direkt am Aarequai, sitzen zig, vielleicht über hundert junge Leute draußen, schwadronieren, rauchen, trinken Kaffee und Bier, feiern den Feierabend und die Rückkehr des Frühlings.

Es ist nicht sehr warm. Die Sonne sinkt. Der Held (ich) reitet in den Sonnenuntergang, denke ich, als ich die Witi erreiche. Die Weite. Das ist ein renaturiertes, total flaches Stück Land zwischen Solothurn und Biel. Die Hauptstraße hat man eingegraben und in einen Tunnel verlegt. Die Wiesen werden zwar noch bewirtschaftet und vereinzelt liegen Gehöfte in dieser Weite, aber die Wiesen werden nicht mehr gedüngt. Campieren darf man hier nicht und auch kein Feuer, kein Lärm, kein Müll usw. Meist sind das ja Selbstverständlichkeiten. Trotzdem hie und da das eine oder andere richterliche Verbot. Im Norden, rechts von mir, streckt sich das Juragebirge. Wo ist der Chasseral? Er ist der höchste Berg des Jura. Schnee überall. Ich bin wohl ziemlich hoch. Die Witi ist gerade so schneefrei.

Gegen Dämmerung radele ich über den Radweg 24 nach Biel hinein. Er führt über die Hauptstraße. Nicht sehr schön, aber es sind auch nur acht Kilometer.

Nun in der Künstlerbude von Marc und Rossana.  Vierter Stock. Dächermeer. Überall stehen, liegen, hängen Gemälde. Rossana bereitet gerade eine Ausstellung in der mexikanischen Botschaft in Bern vor, die nächsten Donnerstag eröffnet wird.

Abends daten wir uns gegenseitig up, wer hat was wann gemacht und wird wann was machen, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Und Marc schlägt vor, dass er im Mai nach Zweibrücken kommt und wir dann eine gemeinsame Kunstaktion machen und darauf freue ich mich schon jetzt.

Ich sitze auf dem Bett, schreibe dies. Die Stadt erwacht. Der Ostwind drückt die Rauchsäulen der Kamine über den Stadtwohnungen liegen waagrecht gen Westen und das ist gut so.

Den Einsam mit dem Gesellschaftslebub austreiben #Gibrantiago

Ich sitze auf einem Feldweg auf meinen Fahrradhandschuhen in der welligen, doch ebenen Gegend zwischen den beiden großen Schweizer Seen. Das ist das dominante Bild, das mir vom gestrigen Tag geblieben ist. Wie ich eine Banane schäle, vom stumpfen Ende aus, so mache ich das immer, und die Wurst, eine typische Schweizer Cervelat, drei mal zehn Zentimeter groß, und mir dabei denke, bei uns würde man diese Wurst Lyoner nennen und sie wäre dicker und ein Ring und wieder woanders würde man sie Fleischwurst nennen in Dosen. Kleingecuttertes Etwas aus Schwein, Wasser und Gewürzen. Cervelat ist die Schweizer Nationalwurst, habe ich mir sagen lassen. Im Norden steht eine viele Kilometer lange, weiße Wand. Das ist bestimmt der Chasseral. Der höchste Berg des Juras. Eben habe ich noch, das ist etwa dreißig Kilometer her, in Biel am Hafen ein Personenschiff mit dem Namen Chasseral gesehen, direkt neben einem anderen Personenschiff namens Stadt Biel.

Die Passage am Südufer des Bielersees ging schneller vorbei als erwartet. Wegen Bauarbeiten am Radweg musste ich hinaufschieben, fünfzehnprozentsteil, bis zur Hauptstraße, um mich dort von dem kräftigen Ostwind weitertreiben zu lassen.

Nun hier, zwischen den Seen, Mittagspause bei Wurst, Banane und Käse und Brot natürlich. Ein Wäldchen hält den Wind ab. Ein Hochsitz gleich nebenan. Seichte Sonne. Die Weite macht mir zu schaffen. Das ist kein guter Tag fürs Gemüt. Wenn ich ein Schiff wäre, ich hätte endlich abgelegt und würde über unbekannte Meere segeln, in der Hoffnung auf einen sicheren Hafen, irgendwann. Herzklopfen. Einsamkeit. Ich bin alleine und werde in den nächsten Tagen keine Freunde mehr besuchen können. Ich kenne niemanden, der zwischen Biel und Perpignan wohnt.

Ab Ins wird der Radweg, der durch karge, in Bestellung begriffene Felder führt derart langweilig, dass ich beinahe verzweifele. Zudem Sägezahnprofil. Als habe man einen Alpenpass in Stücke geschnitten. Wie damals in Småland, nur eben in kalt und kahl und mit gemeinen weißen Bergen. Der einzige Trost ist der Rückenwind, der mich ordentlich anschiebt. Keinen Meter führt die Fahrradroute am Lac de Neuchâtel. Sie schlängelt sich auf Feldwegen ein paar Kilometer südlich vom See auf der Sägezahnebene. Erst in Estavayer, das ich gegen 17 Uhr erreiche, wird die Gegend schöner, radele ich durchs Mittelalterstädtchen, reite durch ein uraltes Tor in der Stadtmauer, kaufe in einer Boulangerie ein Pain und une Pièce de Pizza – längst spricht man französisch, längst habe ich den Röstigraben, über den Frau SoSo in der Homebase gestern geschrieben hat, überquert.

Das Gefühl von Einsamkeit und Verlorenheit, das sich zuvor als eine Art unangenehmes Kitzeln in einem Dreieck zwischen Schulterblättern und Stirn manifestiert hatte, lässt langsam nach. Achtzig Kilometer in den Beinen. Ich mache Fotopause in einem Wäldchen. Zwei Radler, ein Paar, kommt mir entgegen mit kleinem Gepäck, rotgesichtig, mit drei Lagen Kleidern. Wanderschuhe, statt etepete Radlerdesignerschühchen. Stoppen, Bonsoir, Bonsoir und verwickeln mich in ein Gespräch. Engel. Definitiv, die mir gesandt wurden, um so kurz vor Abend die Einsamkeit auszutreiben. Den Einsam mit dem Gesellschaftslebub austreiben, spinne ich dadaistisch. Sie wollen alles von mir wissen, ob ich rund um den See fahre, nein, nach Genf, und oh, was ist denn das, guckt er aufs Smartphone, das am Lenker blinkt, GPS, herzig und sie erzählen auch von sich, dass sie dem Frühling entgegen radeln, ihr Auto in Estavayer stehen haben, da noch hin wollen, gegen die Bise, den Ostwind, ankämpfen, der das Wetter so schön macht und dann Räder und Gepäck einladen und nach Hause fahren in ein kleines Dorf.

Jaja, Zeltplätze gibt es übrigens genug, sagen sie, aber ist noch recht kalt, oder? Wie wäre es mit dem Maison de la Jeunesse in Yverdon, der Jugendherberge? Die ist nicht sehr teuer.

Ich erinnere mich, dass ich schon einmal in dem Haus war, ich glaube, bei meiner Schweizumrundung 2001. Ein warmer Ort mit Frühstück am See. Guter Plan.

So radele ich weiter, die Laune hat sich gebessert, was immer eine gute Sache ist, wenn sie sich vor Einbruch der Nacht bessert.

Viel Wald. Naturschutzgebiet, hohe, bröckelige Felswände zur Linken, rechts Schilf und immer wieder Häfen und immer wieder Grundstücke, auf denen sich dicht an dicht Segelboote drängen, die darauf warten, gewassert zu werden, sobald es ein bisschen besser ist mit dem Wetter. Der Traum von Freiheit auf See endet auf See. Wenn See klein, dann Freiheit nur eine Illusion, radebricht mein Hirn und es versucht zu errechnen, wie weit der Wasserspiegel steigt, wenn alle Boote ins Wasser gelassen werden. das ist doch wie mit dem Gold und Archimedes oder wer hat das mit dem Volumenverdrängen ausprobiert, damals.

Ich rede wirr. Plötzlich, Yverdon. Hatte sich Etavayer lange hingezogen, im Erreichtwerden, kommt Yverdon um so unerwarteter. Die Jugendherberge ist jedoch zwischen 1. November und 20. März geschlossen, lese ich auf der Homepage.

Da kommt mir der Steinkreis aus zig grauen, unheimlichen Menhiren am Ortseingang gerade recht. Schönes, flaches Zeltareal, leider sehr nah bei der Straße. Ein Badmintoncenter. Stadtleben, Schienen, direkt daneben Sumpfwald und dahinter hört man, wie die Bise den See zu Wellen auftürmt und ihn malmend ins Schilf treibt.

Rückenwindfrühling #Gibrantiago

Gestern war Pannentag … nein, das ist das falsche Wort. Wenn ich ein belgisches Kernkraftwerk wäre oder Fessenheim, dann wäre wohl irgendwas Kritisches passiert, man habe aber die Sache unter Kontrolle, kein Grund zur Beunruhigung und alles geht weiter wie bisher. Typisch Mensch. Den Schweizer Radweg Nummer 5 entlang des Bielersees und des Neuenburgersees und des Jurasüdfußes werde ich wohl nie wieder radeln. Er ist langweilig zwischen Biel und Estavayer und zwischen Yverdon und Sarraz. Danach nervt er mit Flußwegvermeidung und anstrengenden Aufs und Abs bis hinüber in die Weingegend am Genfersee. Dort, wo er die Route 63 kreuzt, die schräg am Jura entlang nach Rolle am Genfersee führt, verlasse ich ihn, obwohl die Karte wieder einmal vorgaukelt, dass er ab nun nur noch an einem Bach entlang führt bis hinunter zum See. Die Route 63 ist zwar auch ziemlich buckelig, aber das habe ich nicht anders erwartet.

Wieder einmal wird mir klar, wie wichtig der Einklang der eigenen Vorstellung mit der Realität ist. Weicht deine Vorstellung ab von dem, was du vorfindest, fühlst du dich schlecht, verkrampfst dich, versuchst auf teufelkommraus den friedlichen Radweg am Fluss, der sich dank deiner Vorstellung auf idyllischen Pfaden durch Auen schlängelt, per Gedankenkraft zu erzeugen, was dem Körper aber ganz und gar nicht schmeckt, wenn er gerade einen Stich von ein, zwei Kilometern hinauf in ein Weindorf kurbelt.

Bei der 63 vermutet der Kopf sofort, das wird eine elende Auf- und Ab-Schweinerei. Realität und Vorstellung sind deckungsgleich. Guter Deal.

Die zwanzig, dreißig Kilometer erinnern mich an die Nordpfalz, wo ich groß geworden bin. Weites, grünes Land war der Slogan meines Landkreises. Weites, buckeliges Land. Der einzige Freund, den ich habe, ist der Rückenwind. Zahlreiche Radler kommen mir entgegen. Meist Rennfahrer mit vollvermummten Gesichtern. Im Gegenwind herrscht strenger Winter. Ich radele jedoch im Rückenwindfrühling nach Westen.

Ein abgestorbener Baum auf beigefarbenem Acker, Waschhäuser in den Dörfern, da: ein Café. Schnell rein. Ich ruhe einen Moment.

Das Ladekabel vom iPhone ist defekt. Haarrisse in Reaktor Nummer eins. Die linke Tretkurbel ist locker, ein Supergau steht bevor. Wenn sich Tretkurbeln lösen, kriegt man sie in der Regel nie wieder festgezogen. Sie sind dann so ausgeleiert, dass man sie austauschen muss. So war es zumindest früher, als sie noch vierkantig und konisch waren. Nun habe ich aber eine mit Sternzacken. Beherzt ziehe ich die Schrauben an, ohne auf die Newtonmeterangaben zu achten, die daneben geschrieben sind. Sitzt wieder. Und nun, da ich dies schreibe, sechzig Kilometer gekurbelt, kann die innere Atomkurbelaufsichtsbehörde in mir Entwarnung geben, alles halb so wild.

Endlich am See. Samstägliches Treiben. Die Pumpe ist wieder dominant. Ein Hin- und Herzischen von Landstraßen und Autobahnen ist das, von Bussen und Schnellzügen, und über allem schwirren die Flieger zum Genfer Flughafen. Wind und Straßengesäusel. Was für ein Konzert.

Der Radweg verläuft auf einer schiefen Ebene am See, nie direkt am Ufer, stets entlang der Autobahn oder der Bahnlinie. Wenn man im Neunzig-Grad-Winkel zur Ebene fährt, muss man für ein paarhundert Meter steil berghoch oder runter oder man muss über 10-15 Prozent-Rutschen eine Brücke erklimmen, um über die Schiene oder Autobahn zu kommen. Ansonsten ist die Route 1, die Rhôneroute, sehr flach.

Und ebenso wie die 5 nicht zu empfehlen. Im Herbst, wenn die Weinlese duftet, könnte es ganz schön sein hier, stelle ich mir vor.

In einer Postfiliale kaufe ich ein iPhone-Kabel. Das Telefon dümpelte den ganzen Tag bei etwa 1 bis 10 Prozent Ladung. Nicht auszudenken, wenn es ausfallen würde. Die Kernschmelze der feinen Künste. Keine Fotos, keine Blogeinträge, kein Twitter. Das gesamte, zehntausendstöckige Reisekunstgebäude hängt an einem dünnen Kupferkabel. Damoklesk.

Nun am Lagerplatz außerhalb von Nyon im Windschatten eines Wäldchens. In der Einflugschneise. Viel über den Mensch nachgedacht und wie er als Gesellschaftswesen insgesamt zu beurteilen wäre, wenn man nicht selbst Mensch wäre. Eine Plage wahrscheinlich? All der Lärm, die Schüsse der Jäger in der Nacht, all die massiven Eingriffe, aber das sind ja nur Haarrisse im Reaktor des Ökosystems.

Anthropobiberozän #Gibrantiago

Der Genfer Flughafen nervt seit bald hundert Kilometern. Seit Nyon höre ich die Flieger ein- und ausfliegen im gefühlten Fünfminutentakt. Nachts formulierte ich einen Artikel über das kürzlich ausgerufene Anthropozän, das Menschzeitalter. Manchmal müsste man im Halbschlaf Gedachtes mitschreiben können. Der Artikel gipfelte jedenfalls darin, dass ja auch Biber massiv in ihre Umwelt eingreifen, indem sie Bäume fällen, Flüsse stauen und Burgen bauen. Das Biberozän. Alles ist doch Natur, faselte ich im Halbschlaf, also auch der Mensch mit seinem Lärm, seinem Schnell, seinem ‚Immer weiter, immer größer‘. Ich war versöhnt.

Die gestrige Strecke war anpruchsvoll, sprich, es gab einiges zu klettern, schon auf dem Weg durch die Weindörfer hinein nach Genf. Und in Genf. Kilometerweit überholte ich einen Autostau von Besuchern des Autosalons. Gestern war der letzte Tag, erfuhr ich auf Twitter.

Die Stadt selbst? Ich nehme mir nicht viel Zeit, radele auf dem gut beschilderten Radweg vorbei an reichen und armen Leuten, wobei die Reichen zu überwiegen schienen. Überall Videoüberwachung und Glas und Limousinen und Pelzmäntel und Designerjoggingmode. Dann eine etwas verkommenere Gegend. Ein bisschen erinnerte die Radwegführung mich an den Süden Londons, die Docks, die engen Gassen, nur ohne Gestank. Drei Kerle lungerten auf dem Radweg und als ich langsam heranschaukelte, kam einer auf mich zu, Bonjour grinsend, ça va?, fragend, während die beiden anderen, wie die Raptoren in Jurassic Park, strategische Umzingelungspositionen einnahmen. Jetzt bloß nicht anhalten, bloß nicht in ein Gespräch verwickeln lassen, bloß nicht diese angetanzte Freundlichkeit mit einem Hallo, schön, dass ihr so lieb zu mir seid!, erwidern, Augen zu und durch. Tse. Genf.

Später, im westlichsten, letzten Zipfel der Schweiz, sehe ich mich von Bergen umzingelt und kann mir kaum vorstellen, dass ich da ohne größere Bergetappe durchkomme. Wenn der Mensch wollte und wenn es sich finanziell lohnen würde, könnte er die Berge einfach abtragen. Ein liebes langes Anthropozän lang Zeit dafür hätte er gewiss.

Die Radwegebauer der Via Rhôna und des Radwegs Leman-Mediterranée (Genfersee-Mittelmeer) haben großartiges geleistet und so schlängelte ich mich auf teils nigelnagelneuen Routen, die noch nicht im GPS-Track vermerkt sind und ruhigen Landstraßen durch die faltige Gegend entlang der Rhône. Ganz ohne Steigung ging es leider nicht, aber es war erträglich.

Falls ihr einmal die Strecke fahren wollt, zwei Tipps: fahrt die Rhône abwärts und dort, wo ihr zwischen dem „forte“-Radweg über die Landstraße und dem „sportif“-Radweg über einen geteerten Waldwg wählen könnt, nehmt die Landstraße :-).

Nach siebzig Kilometern finde ich nahe Chessenaz eine tolle Zeltwiese. Unten jault die Nationalstraße. Eine Kettensäge. Der Wind, der mich drei Tage lang begleitete, hat nachgelassen.

Nach Büroarbeiten im Schneidersitzbüro auf der Luftmatratze werde ich nun mal frühstücken. Einen schönen Wochenbeginn euch allen.