Reset

Wenn dies eine Mount Everest-Expedition wäre, wäre ich nun wohl im zweiten Basislager (wieviele Basislager gibt es am Mount Everest überhaupt?) angelangt. Das letzte Basislager vor dem finalen Anstieg.

Fitou, Weindorf in der Nähe von Perpignan, sonnen- und windverwöhnt, das nach starkem Regen und ein paar Tagen Wind immer aussieht wie mit dem Kärcher gesäubert, sagt mein Freund Hagen.

Die dreißig Kilometer von meinem Felsen, hinter dem gestern das Zelt leidlich vorm Tramuntana geschützt stand bis nach Fitou zu @fimidi @hagengraf, waren geprägt vom bis knapp hundert Kilometer schnell tosenden Tramuntanawind. Aus Nordwesten kommend kann er bis zu drei Wochen anhalten, erklärte mir ein dickbäuchiger Seemann mit SOLCHEN Oberarmen in Port-La-Nouvelle. Zum Glück muss ich nicht nach Nordwesten. Dennoch ist es schwierig, das Europennerradel im Wind zu navigieren. Meist habe ich Seitenwind, dessen Böen mich hin und her werfen, das Fahrrad steht dann schräg im Wind. Die Böen kommen unvermutet. Wenn man Glück hat, kündigen sie sich durch ein Grummeln in den Pinien an. Einmal drückt es mich eine Böschung hinauf am Kanalradweg und es ist ein Glück, dass der Kanal rechts von mir, auf der windzugewandten Seite liegt. Ein andermal, kurz hinter Port-La-Nouvelle, droht der Tramuntana, mich eine zwei Meter tiefe Böschung hinabzudrücken. Unvergessen bleibt mir jener Moment, in dem er einige Kilometer weit direkt von hinten kommt und ich ohne zu treten mit dreißig Sachen nur so dahinsegele.

Gegen Mittag treffe ich bei Hagen und Christine ein. Lecker Pudding, dampfend warm, Kaffee, absacken, das schöne, rote Appartement beziehen, das Frau Soso und ich im letzten Winter gemietet hatten, ach und dann auch die Wehmut und die Erinnerungen an damals, und nun bin ich aber alleine hier in der Bude mit dem bequemen, frisch bezogenen, großen Bett.

Wie so ein Reset der Reise wirkt das. Ich weiß nicht, ob mir das gut tut. (Klar tun Erholung und Dach überm Kopf gut, aber die Wehmut …).

Nun sitze ich hier auf dem Bett und schreibe diese Zeilen, draußen tost noch immer der Wind und fast kommt es mir vor wie eine kleine Falle der Glückseligkeit, eine unheimliche Schwerkraft des Geborgenseins, die mir die Abreise schwer macht, ich schon liebäugele, einen Tag länger zu bleiben und mit der Angst ringe, dass mit jeder Minute, die ich in diesem Kokon verbringe, das Weiterfahren noch schwerer wird. Denn der Wind wird mich noch bis mindestens Argelès-sur-Mer, etwa vierzig, fünfzig Kilometer südlich hin- und herschütteln. Es sei ein Wetterphänomen, das aus der Kälte der Pyrenäen im Kontrast zur Hitze des Flachlands geboren wird und dann entstehen dermaßen große Luftdruckunterschiede, dass es tage- und nächtelang so weitergeht.

Anyway. In einer Stunde werde ich wieder im Sattel schaukeln, muss mir nur noch überlegen, wie ich zurück auf die Radlerroute komme, denn Landstraße fahren bei diesem Sturm behagt mir gar nicht.

Vorhin habe ich noch einen unreifen Blogartikel privat ins Blog geladen, den ich gedenke, für das E-Book, das aus dem Blog entstehen wird, noch auszuarbeiten.

Die Gratwanderung zwischen Blog und Buch ist nicht sehr einfach. Oft reicht die Zeit nicht, einen Artikel zu schreiben, bzw. den Anspruch an die Qualität zu erfüllen. Diese stets galoppierende Gegenwart.

Manchmal liegen auch noch nicht alle Puzzlestücke für einen Artikel vor.

Welcome to the Adventure Zone

Das Liveschreibprojekt kommt an seine Grenze. Nicht, dass ich mich dazu zwingen möchte, jeden Tag akribisch etwas zu notieren im Blog, das wäre ein großer Fehler. Es würde die Lesenden langweilen. Das Problem liegt in den Unterschieden zwischen Blog und Buch. Ein Blog verzeiht Redundanz, es braucht sogar bis zu einem gewissen Grad die Wiederholung, die immer wiedere Erwähnung der Basics. Das Buch hingegen muss von all dem bereinigt werden (wie ich es mit der überarbeiteten Version von Ans Kap getan habe. Somit kann ich mir die Idee abschminken, nach der Reise, zu Hause vor einem fertigen Buch zu sitzen und nur noch die Tippfehler zu eliminieren. Im Gegenzug gibt es Elemente, die so kompliziert sind (und womöglich noch gar nicht fertig erlebt im Liveschreibleben), dass es unmöglich ist, sie direkt zu notieren. Schon vor ein zwei Wochen habe ich einige Geschichten, die zu kompliziert oder unpassend waren, in das schwarze Notizbuch – handschriftlich, gut, alt, klassisch – skizziert. Die letzten Tage waren zum einen etwas schnellere Tage, zu anderen und schwierigeren Teil sind die Geschichten dazu nicht so einfach zu schreiben, weshalb ich beschlossen habe, sie erst einmal auszuklammern und diesen Artikel auf privat ins Blog zu laden für eine spätere Überarbeitung.
21. und 22. März (Tag 25 und 26) Das Meer, Küstenradweg, der verschwindet und wieder kommt, und zwar mit erstaunlicher Güte, zum Glück! Welcome to the Adventurezone. Überlegungen zu leerstehenden Ferienparks, Flüchtlingen, Europa, Dekadenz, Egoismus, Gedankenlosigkeit. Zustandsbeschreibung eines Kontinents, der die Welt leersaugt am Beispiel eines kleinen Küstenstreifens, an dem sich alljährlich die hart arbeitenden, über ihre eigenen Wohlbefindlickeitsgrenzen gehenden, oft frustriert gelangweilt, an der eigenen Sinnsuche gehinderten Menschen des Landes treffen.

Der Artikel greift einem Gespräch mit Hagen und Christine vor (Tag 27), in dem es um Hagens Reise zum Autosalon geht, um Christines Testfahrten für Conti, um den Europapark in Rust, in dem Hagen an einer Webhosterkonferenz teilnahm, um verschiedenfarbige Bremsen an teuren Autos (wie Karategürtel), Knopfanzahl an Anzügen, all die Probleme, mit denen sich der im alltäglichen Überlebenskampf des westlich zivilisierten Businesslebens stehende Mensch konfrontiert sieht, hinzu kommen vernachlässigte Kinder, die bespaßt werden wollen, die man sich in den Ferien vom Hals halten möchte (hier einen Ringschluss zum Entstehen der Ferienparks mit Bespaßungsmaschinerie einfügen und eine nassforsche Prognose, wie der Mensch als Gesellschaftswesen mehr und mehr dem Unglück entgegenwächst, weil er alle Löcher, die sich vor ihm und seinem ramponierten Seelenleben auftun verzweifelt mit noch mehr Spaß und Ablenkung füllt).

Zusätzlicher Exkurs in eine fiktive zukünftige Welt, in der es keine Menschen mehr gibt, und das einzige, was übrig geblieben ist, ist dieser Küstenstreifen von ein, zwei Radreisetagen Länge mit leerstehenden, verbarrikadierten Hotels, Zäunen und am Horizont ragt das Monsteruniversalfliehkraftspielgerät – Außerirdische würden vielleicht vermuten, damit haben sie sich letztlich durch ein Wurmloch in ein anderes Universum katapultiert …

Hier der ursprüngliche Artikelentwurf.
Ein Rastamann auf dem Fahrradlenker! Tse. Nein, nicht auf meinem, auf seinem eigenen Fahrradlenker, sitzt der Kerl und kurbelt fröhlich rückwärts, immer mal wieder über die Schulter blickend, über die Sonnenbrille schielend, zielsicher, in Schlangenlinien zwischen all den Leuten hindurch, die die Frühlingsfrische auf dem Radweg zwischen Meer und Montpellier genießen. Spaziergänger, Radfahrer, Skater, Paare mit Kinderwagen, Birdwatcher. Wie extra einbestellt staksen rosarote Flamingos in den Seen und Tümpeln, durch die sich der Radweg schlängelt und ich trete ordentlich rein, bis ich bei einer Pferderanch erst bemerke, dass ich die Abzweigung verpasst habe und drauf und dran bin, nach Montpellier zu radeln. Meine Strecke führt da drüben, auf der anderen Seite des Kanals. Schon vor drei Kilometern hätte ich über die Brücke gemusst. Ein Kaffeeautomat, Sitzbänke, andere Touristen, ich frage nach Wechselgeld für einen Fünfeuroschein und man schenkt mir die Münzen für einen Kaffee. Mal gewinnt man, mal verliert man, dröhnt es im Jahrmarktsjargon schneidisch in meinem Kopf. Erst einmal Luft holen, Kaffee trinken, ausruhen. Die Sonne scheint. Auf dem Pferdehof werkelt jemand. Das Pärchen am Nebentisch erklärt mir eine Brücke ganz in der Nähe, puuuh, aber die Brücke ist so eng und so verbarrikadiert (damit auch ja kein Moped durch kann, das verstehe ich) wie die Radwege in Kent. Ich muss die Packtaschen abnehmen und das Radel über die Barriere wuchten. Auch andere Radler haben ihre Schwierigkeiten, selbst ohne Gepäck.

Morgens noch sah es so aus, als seien die guten Radwege nun endgültig passé. Über Strandpromenaden holperte ich auf Betonplatten entlang des Meers westlich von Grau-du-Roi, zwar auf einer beschilderten Route, doch wohin sie führt, und ob sie offizieller Teil des Mittelmeerradwegs ist, stand nicht auf den Schildern. Mittels GPS und dem Track, den ich gespeichert hatte, gelang aber die Navigation ganz gut. Kaum hatte ich auf Twitter das Ende aller Radwege in Südfrankreich verkündet, gab es wieder Pisten, sogar mit aufgemaltem Mittelstreifen, ganz wie auf richtigen Straßen. Bis Sète kann man also ganz auf Radstrecken fahren, die meist entlang normaler Straßen führen.

Im Hochsommer dürfte es allerdings schwierig sein, durchzukommen, denn die Gegend ist voller Hotels und Campingplätze, Restaurants und Schwimmbäder, Spielplätze, Casinos, Ferienappartements und es gibt etliche Bootsparkplätze, in denen die Motorboote, teils auf dreistöckigen regalähnlichen Gebilden überwintern. Der Sommer muss hier ein Tumult ohne Gleichen sein.

Vergnügungsparks, in denen fleißige Arbeiter alles, an dem der Lack abblättert, wieder auf Hochglanz bringen, mit Sprühpistolen frischen Lack aufbringen. Jenseits von Sète und Agde liegt ein Spaßbad am anderen, Rutschbahnen, eine Achterbahn in einem Europapark, der mit einem frechen übergroßen Clownsgesicht am Hauptgebäude Kinder anlockt und gegenüber eine düstere Bude, ebenfalls mit Clownsgesicht, das aber eher wie der Joker in Batman aussieht, mit bösen Augen und einer Pistole im Anschlag. Guter Vergnügungspark, böser Vergnügungspark. Piercen kann man sich auch lassen.

Frankreichs Abenteuerzone.

Tag #27 – Infos aus der Homebase

Wohl dem, der bei diesem Sturm ein Dach über dem Kopf hat. Die Böen ließen Irgendlink heute Schlangenlinien fahren. Ob man sie auf dem Track sehe, hat er vorhin gefragt. (Nun jaaa …)

Bei Hagen und Christine ist Irgendlink nun, einem deutschen, vor vielen Jahren nach Südfrankreich ausgewanderten Paar, deren herzige Ferienwohnung wir zwischen den Jahren gemietet hatten. Zwei ganz feine Menschen!

Wäsche gewaschen und sich geduscht hat unser Europenner auch mal wieder und nun sitzt er gemütlich bei einem Risotto mit den beiden zu Tisch. Wind- und sturmsicher …

Foto 1fs
Am Kanal, der am Meer entlang von Narbonne nach Port-la-Nouvelle führt
Foto 2fs
Für die Zahlensammlung an einem Tor in La-Palme
Foto 3f
Fitou Kilometer 1720 der Kunststraße
Foto 4
Rost und abblätternder Lack an einem Tor bei Port-la-Nouvelle

Zum heutigen Track bitte hier ⇒ klicken. (Wegen Netz-Unterbrüchen kann die angezeigte Totallänge vom real gefahrenen Wert abweichen.)

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Tag #26 – Infos aus der Homebase

Wegen abendlicher Abwesenheit der Homebase heute nur das Minimum vom Minimum. 

Nämlich der Track:
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Tag #25 – Infos aus der Homebase

Endlich Meer. Immer wieder ist Meer irgendwie mehr als einfach nur Wasser.

Kurz vor Agde baut Irgendlink soeben sein Zelt auf.

Foto 1d
Stierdenkmal in La-Grau-du-Roi
share
Eins der ersten Meerbilder des Tages
Foto 2d
Distel- und Radelschattenkunst
Foto 3d
Panorama Sète
Wand
In Beton eingelassener Spiegel in Mittelmeerform am Ortsausgang von Sète

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Nahmenscherlebnisse #Gibrantiago

Horst brüllt: HEUTE IST UNSER TAG! Zwei, drei Wohnwagenfelder weiter antwortet jemand ohne Namen in ähnlicher Lautstärke. Horst kenne ich schon vom Vorabend. Seine Frau hat ihn so genannt. In schamlosem Zwiegespräch. Horst und der Mann ohne Namen sind bester Laune. Geschäftig rumpeln sie in ihren Wohnmobilen, was mit ein bisschen Phantasie fast so klingt wie ein fernes Gewitter. Wären da nicht die schrillen Zwischentöne klappernden Geschirrs. Es ist sieben Uhr früh, oder um es einmal auf europennerianisch zu sagen SIEBEN-UHR-PERVERS-FRÜH. Schreis laut, schreis in deine Seele hinein.

Ich bin somit ‚grumpy‘, wie der Engländer sagen würde. Zwar war ich schon wach, aber unnötiger Lärm, der auf dem Slipstream der Rücksichtslosigkeit reitet, verärgert mich nunmal. Andere wollen vielleicht noch schlafen? Andere hören Horst und den Unbekannten vielleicht gar nicht, weil sie in schalldichten schneeweißen Luxusuniversen schlummern?

Kurze Zeit später baut eine Familie aus Bonn ihr Wohnwagenlager neben meinem Platz auf. Geräuschlos ist anders. Ich frage mich, wer um ACHT-UHR-PERVERS-FRÜH auf einem französischen Campingplatz eincheckt. Woher kommen die? Nachtfahrt?

Das Sahnehäubchen sind zwei Dieselrußgestanksabreisende, die das Wohnmobil erst einmal fünf Minuten warmlaufen lassen.

Nicht dass das Gesäusel mich jetzt noch stören würde, ich frage mich nur, wenn dieser Zeltplatz hier in Avignon repräsentativ für die Milliarden Menschen auf der Erde steht, wie groß ist dann die kumulierte Rücksichtslosigkeit (oder Gedankenlosigkeit) auf dem Erdball?

Erst mein Nachbar Serge, ein Belgier aus Gent, holt mich aus dieser Gedankenschleife wieder heraus. Wir halten ein Morgenschwätzchen um NEUN-UHR-PERVERS-FRÜH, tauschen Lächeln, Namen und er empfiehlt mir das alljährliche Festival in Gent, das im Sommer zehn Tage lang die ganze Stadt auf den Kopf stellt.

Draußen auf dem Radweg lasse ich den neuen Tag einsickern. Mit GPS-Track navigiere ich hinaus aus Avignon in Richtung Beaucaire. Meist über ruhige Landstraßen oder Landwirtschaftswege, miserabel ‚flickenteppichig‘ geteert, aber dafür kaum Autos.

Beaucaire und Tarascon, Schwesterstädte diesseits und jenseits der Rhône. Tarascon hat ein wuchtiges Schloss, eine regelrechte Trutzburg, und Beaucaire einen riesigen Kanalhafen mit Hausbooten. Hier zweigt die Mittelmeerroute von der Via Rhôna ab. So sagen es die GPS-Tracks, die ich vor der Reise heruntergeladen habe.

Radwege gibt es keine mehr und auch keine Beschilderung. Dennoch hat die neue Route gut gewählte kleine Sträßchen, wenn man mal von einem ca. acht Kilometer langen Stück etwas forscherer Departementsstraße bei Saint-Gilles absieht. Das Meer ist nah. Luftlinie noch etwa 50 Kilometer. Wenn ich es heute noch dahin schaffen will, muss ich auf die Hauptstraße, dämmert’s mir. Die Radroute schlängelt sich im Zick-Zack, und schon bin ich in einer Gedankenschleife zum Thema Wollen gelandet.

Wie sich die Kräfte, die man einsetzt, um etwas zu erreichen, manchmal gegen einen wenden, ich meine rein innerlich, im Gemüt. Schon habe ich ‚Wunschvorstellung Meer heute, presto‘, installiert und vergesse alles andere um mich herum, kurbele gehetzt, schnell, wider das eigene Gefühl. Der Verkehr auf dem kurzen Stück Schnellstraße vor Saint-Gilles fährt mir durch den Kopf, durch die Ohren, die Nase, selbst die Druckluft schnell fahrender Autos … nein, das geht so nicht, du musst das Meer aufgeben. Ob du es heute erreichst oder morgen, ist doch egal. Im Grunde sollte dir jede Zeitmarke egal sein, denn Zeit ist etwas von Menschen Gemachtes, das hier draußen in deiner langen Seelenreise eigentlich nichts zu suchen hat. Termine, Termine, Termine.

Ich folge treu dem GPS-Track, der gut ein Fünftel länger ist als die direkte Wegstrecke über die Schnellstraßen, und es gelingt mir, kurz hinter Saint-Gilles auf einer sehr ruhigen, kaum fünf Meter breiten Straße, mir das Meer aus dem Kopf zu schlagen; und plötzlich fliegen die Beine wieder und alles läuft rund. Trotz leichten Gegenwinds, ab und zu Autos und Motorrädern, allesamt, wegen der Enge der Straße höchstens sechzig Kilometer schnell, rücksichtsvoll überholend, Wohnmobilen mit einem Schwänzchen Autokorso im Schlepptau, unüberholbar, in einer Kurve zwei Motorradfahrer. Einer von ihnen hatte einen Unfall, sein Motorrad liegt geschrottet im Wasser. Die Straße endet rechts und links direkt in einem Entwässerungskanal. dahinter Schilf, dahinter Felder, Pferde, Rinder mit solchen Hörnern, Schafe, Wiese, Acker, später nur noch Natur, und ein tausendfaches Vogelzwitschern und -kreischen liegt in der Luft. Möwen, Störche, und hier und da duckt sich ein Ornithologe mit einem riesigen Teleobjektiv am Straßenrand. Wie viele Meter lang wohl alle Objektive der Gegend aneinandergereiht ergeben, schießt es mir in den Sinn.

Dämmerung. Fünf Kilometer geradeaus bis Gallician. Dort sei ein Campingplatz, sagen zwei Angler. Fehlanzeige. Am Hafen stehen zwei Wohnmobile. Ob ich mich dazustellen soll? Eine Frau gibt mir Trinkwasser. Ein irrer Bauer fährt mit dem Traktor und zwei auf dem Frontlader aufgespießten Heuballen durchs Dorf, nebenher läuft sein Hund und er schreit und lacht und ihn flankieren plötzlich zwei weitere Autos, fast wie ein Hochzeitskorso, nur ohne Brautkleid, und ich sorge mich um das Hundchen, das sich ab und zu gefährlich den Rädern des Treckers nähert. Ob ich den Verrückten nach einem Zeltplatz fragen soll? Oder einfach neben dem Sportplatz?

Nach reiflicher Überlegeung und in Erinnerung an die Nah-Mensch-Erlebnisse vom Morgen in Avignon, radele ich am Kanalradweg weiter, ein, zwei Kilometer, baue das Zelt im letzten Abendlicht auf. Ein Froschkonzert lullt mich in den Schlaf.

Tag #24 – Infos aus der Homebase

Zwar ist schon bald Halbzeit dieser Reise, doch es nie zu spät, zurück und vorwärts zu schauen. Und es ist nie zu spät, zu danken. Euch allen. Zum Beispiel, für all eure Unterstützung, in Form von Texten. Blogartikel, Tweets – Erwähnungen aller Art.

Heute hat Frau Rebis einen feinen und schön bebilderten Text gebloggt. Danke! Und ja, ich weiß, dass es noch andere gab. Bitte helft mit, dass wir alle bereits geschriebenen Texte zusammenbekommen (gerne mit Link im Kommentarfeld).

Auf der Reise Ums Meer (2012) haben wir jene Mitreisenden, die das Projekt unterstützten, auf den Seiten SponsorInnen und SponsorInnen des Herzens dankend erwähnt. Auch diesmal wollen wir wieder alle erwähnen, die das Projekt #Gibrantiago auf irgendeine Weise − materiell, moralisch oder mit Artikeln/Texten/Links − unterstützen.

Hier findet ihr die Links zu den beiden Unterseiten:

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Fast am Meer ist Irgendlink nun. Nicht mehr an der Rhône zwar, dafür am Ufer eines Kanals, der ins Meer zielt. Dort baut er jetzt sein Zelt auf.

Foto 1
Drache in Tarascon

Foto 2
Stier in Beaucaire

Foto 3
Meine erste Pferdeherde der Camargue
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Gott, Wille, Glaube, Gibraltar #Gibrantiago

Die Luft ist raus. Total schlapp, nicht körperlich, sondern im Kopf. So muss sich die Rhône fühlen, nachdem sie sich nach dem langen Weg durch die Berge endlich in der weiten Ebene ab etwa Bourg-Saint-Andéol ausbreitet. Mäandriernd, geduckt, dem Meer entgegen, sichtbehindert von Schilf, froschbequakt, willfähriger Lagerplatz von Millionen Zugvögeln auf dem Weg nach Norden. Mein Hirn ist matsche. Oder leer? Ich bin nur noch ein Körper, der das Radel antreibt, auf dem er sitzt. Das Ziel, Gibraltar, existiert nur noch als Wort. Ich meine, es habe früher einmal als etwas euphorisierendes, bedeutungsvolles, wichtiges, etwas, was es wert ist, erreicht, erradelt zu werden, existiert. Aber die Gefühle von damals, kaum ein, zwei Wochen ist das her, sind nun weg. Seit ich in diesem verfluchten Flachland radele. Frisch bestellte Äcker. Gewächshäuser, die fernen Berge werden terrassenförmig abgetragen, eine Zementfabrik. Hunderte Transportfahrzeuge. Autos, Motorräder, Samstagnachmittag-zum-See-Rausfahrer und -griller. Andere Radler mit quietschbunten Trikots. Tour de France, Tour de France, Ouf-ouf-ouf.

Das Wetter ist wunderbar. Ich radele ohne lange Unterhose, ohne Handschuhe, im T-Shirt, schmiere das Gesicht und die Unterarme vergeblich mit 50er Sonnencreme ein. Ein Anschmieren gegen die zersetzende Kraft der UV-Strahlung ist das. Die Radwege ohne Autobeteiligung haben seit etwa Pont-Saint-Ésprit aufgehört und es geht auf meist ruhigen Landstraßen weiter. Obschon die Touristenroute, die eigens ausgeschildert fast direkt am Flussufer verläuft, nicht besonders schön ist, weiß ich den rauen Charme ihres Teers (@RecumbentTravel würde sagen: Bremsasphalt) durchaus zu schätzen gegenüber der direkt daneben verlaufenden, unradelbaren Kies-Alternative. Weiter-weiter-weiter und vom Gepäckträger aus krallt sich eine gewisse Lethargie in den Nacken.

Was ist bloß los? Ich habe das schon öfter festgestellt. Sobald die Widrigkeiten weg sind, Frost, Regen, Großstadtdschungel usw., macht sich die alles zermürbende Ziellosigkeit breit.

‚Ich könnte aufhören‘ steht nun gleichauf mit der Idee, statt nach Westen abzubiegen, erst einmal runter ans Meer zu radeln und darüber gaukelt das Zeitfenster zur Rückkehr, das ich mir für Mitte April gesetzt habe. Wenn ich den Umweg über das Ende der Via Rhôna mache, verliere ich ein bis zwei Tage und ich habe vermutlich sowieso zu wenig Zeit, um es bis nach Gibraltar zu schaffen.
Mittags wechsele ich die Bremsbeläge am Vorderrad neben einer kleinen Brücke. Der Fahrradhändler meines Vertrauens hatte vor der Abreise leider keinen Ersatz auf Lager und so schufte ich mit Schweizer Taschenmesser und Steinen und viel Geduld das Gummi aus der Halterung und erdreiste mich sogar, den Bremsschuh zu ölen, damit der neue reinpasst.

Eine Schafherde treibt heran bis zur Brücke, wo ich wie ein Wallensteinheer die Stellung halte, kommt zum Stehen, traut sich nicht, traut sich tröpfchenweise vereinzelt doch, aber sobald ich mich bewege, schrecken die Tiere zurück. Also erstarre ich und beobachte das Herdentreiben. Gar nicht unähnlich sind die Menschen.

Nach den Schwierigkeiten mit den Frontbremsbelägen, stelle ich die Arbeit an den hinteren Belägen erst einmal zurück. Eine Bremse reicht. Ist ja sowieso alles flach hier. Marcoule, dreifach mit Stacheldraht umzäuntes Fabrikgelände, Fotografieverbot. Meingott, was ist das? Zwei Hundegassigänger klären mich auf, ein Nuklearzentrum, streng geheim. Anreicherung vielleicht? Viele Autos auf den Parkplätzen, viele Arbeitsplätze, Schichtwechsel, perpetuum-mobileske Selbstantreibungsmaschine, die aus Uran Energie erzeugt, um Autos zu erzeugen, mit denen die Menschen zur Arbeit fahren können, um Uran anzureichern, damit man damit Energie erzeugen kann.

Kunstbübchenrechnung, unvollständig, ich weiß, aber ich bin schräg drauf an diesem verklärt sonnigen Tag, mache viele Fotos.

Was ist das bloß mit dem Ziel und dem Weg, fabuliere ich. Sobald ich den Glauben an das Ziel verliere, macht es keinen Sinn mehr, den Weg zu gehen. Kann das so stehen bleiben? Man redet ja immer so viel über den Weg und das Ziel, ein Klassiker ist ja, der Weg IST das Ziel, was Andreas Altmann in einer bitterbösen Geschichte ad absurdum geführt hat und kurzerhand behauptete, das Ziel ist das Ziel und den Weg dahin als Ziel zu bezeichnen, ist eine Beleidigung für all jene, deren Weg hart und gemein ist.

So komme ich nun durchs Rhônetal kurbelnd zu der Idee, dass Weg und Ziel Hand in Hand gehen, und dass es ohne Ziel keinen Weg gibt und ohne Weg auch kein Ziel. Obendrein beginnt sowieso alles im Kopf, sprich, sobald das Ziel definiert ist, sagen wir Gibraltar, sucht man sich den Weg dahin und der Weg entsteht sozusagen erst, wenn es ein Ziel gibt.

Gott ist das Ziel, der Weg heißt Glaube. Interessanter Ansatz, Hirn. Ich bin nicht gottgläubig, aber ich kenne die ungeheure Kraft, die ein Glaube, woran auch immer, entwickeln kann. Glaube kann heilen, kann dich beruhigen, kann dir die Angst nehmen vor dem Unbekannten, vor Bösem und er kann einen Menschen ein vollbepacktes Fahrrad antreiben lassen, das ihn in die Richtung bringt, in die er will.

Gott, Wille, Glaube, Gibraltar.

Seit über zwanzig Jahren existiert mein affenfelsengewordener, selbst gebastelter Gott namens Gibraltar schon und es sind immerhin, ich glaube, vier Versuche gescheitert, dahin zu radeln. Mit Grauen denke ich ans Ebrodelta, das Rhônedelta ist dagegen ein Klacks. Im Ebrodelta schnürte mir in den 1990er Jahren die unheimliche Weite, gepaart mit winterlicher Tristesse regelrecht die Kehle zu.

Nein, es geht mir nicht schlecht, falls ihr das denkt. In den letzten zwanzig Jahen habe ich gelernt zu interpolieren, dann, wenn die Sinnkette zu reißen droht, habe gelernt mich ein, zwei, drei Tage, eine Woche, durchzuhangeln ohne Enthusiasmus, ohne dieses wahnsinnige, beflügelnde Gefühl, das günstigstenfalls die Fahrradreise vorantreibt. Habe gelernt, ohne den Glauben an die Sache dennoch weiterzumachen. Und das ist vielleicht eine der energischsten Eigenschaften, die man sich wünschen kann: weitermachen, auch wenn gerade kein Ziel sichtbar ist. Und dann ist er wieder da, der Glaube und das Vertrauen, denn irgendwo ist sie ja noch, die Vision, die einen noch vor ein paar Tagen beflügelte und sie wird auch wieder erstarken.

Hoffe ich.

Tag #23 – Infos aus der Homebase

Hach, da stellt sich doch einfach ein Campingplatz in Irgendlinks Weg! Keine Bagatelle das. Muss man ernst nehmen, wenn sowas passiert! Und den Wein, den es nur dort gibt, kauft man natürlich auch. Aber natürlich nur, damit man den Campingplatz beim nächsten Mal wieder findet. Schwört man. Und am Samstag darf man eh auch mal ein bisschen früher Feierabend machen.

Cheers und so …

campingwein
Est nomen omen?

Foto 1c

Foto 2c

Foto 3c

»Ich, Pont Saint Esprit und Avignon.
Leider komm ich nicht rüber. Die Brücke ist kaputt, wie man deutlich sieht.«

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Vor ein bisschen mehr als zwei Jahren haben Mösiö Irgendlink und ich das neue Jahr in der Nähe von Avignon begrüßt und dabei natürlich auch dieses charmante Städtchen besucht. Hier lang geht’s zu Irgendlinks Abenteuern in Avignon (→ klick). Ach, übrigens: Heiko war auch grad dort − also Heiko Moorlander, ihr wisst schon (hier → klicken) und hier lang geht es zu meinem Blogartikel und den Bildern von damals (→ klick).

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Ob Jack Kerouac wohl Blogger geworden wäre? #Gibrantiago

Jack Kerouac hatte kürzlich Geburtstag. Am 12. März wäre er 94 Jahre alt geworden. Dass er zwei Jahre nach meiner Geburt nicht einmal fünfzigjährig starb, ist glaube ich seinem exzessiven Lebenswandel zuzuschreiben. Mit dem Buch Unterwegs (On The Road) schrieb er sich zur Ikone der Beat-Generation. Auch hat er zahlreiche andere Bücher geschrieben, von denen ich Gammler, Zen und hohe Berge am liebsten hatte. Ich glaube, es war das Buch, in dem dieser Japhy Ryder vorkam, mit dem ich mich identifizierte, ein Mensch, der alles Materielle abwarf, in einer Hütte lebte, auf dem Boden schlief und irgendwann nach Japan oder Fernost auswanderte und verschwand. Genau weiß ich das nicht mehr. Es ist dreißig Jahre her, dass ich Kerouac las. Ich habe mich immer gefragt, wie der Mann mit seiner spontanen, gegen die damaligen Regeln der Literatur verstoßenden Schreibe, so bekannt werden konnte. Und ich frage mich, was wohl aus Jack Kerouac geworden wäre, wenn er heute leben würde. Ob er Blogger wäre? Ob er zu den Auserwählten gehören würde? Zu denjenigen, die die Verlage groß herausbringen, also zu denjenigen, von denen man sich erhofft, dass sie Gewinn abwerfen?

Sicher gab es einige von seiner Sorte, die nie bekannt wurden, die nie verlegt wurden, die nie mitspielen durften, obwohl sie ähnliche Produkte vorzuweisen hatten, wie Unterwegs (oder dazu in der Lage gewesen wären, solch ein Buch zu schreiben, allein, es fehlten die Anreize).

So mutmaße ich vor mich hin und benehme mich wie ein Astronom, der in den tiefen des Sonnensystem nach einem unbekannten neunten Planeten sucht, nur eben statt Planeten im Weltall verschollene Kunstwerke und literarische, nie gedruckte Schätze … Das Angenehme am Bloggen ist, dass es einem den Druck nimmt, sich und das woran man arbeitet zur Ware machen zu müssen.

Der Rhôneradweg entwickelt sich zu meinem absoluten Lieblingsfernradweg, so gut ist er ausgebaut und beschildert. Natürlich hat er Mängel, den größten wohl jenes etwa dreißig Kilometer lange Stück Departementsstraße zwischen Mulattière südlich Lyons und Givors. Da sind wir uns einig, der französische Rennradler und ich. Seit einigen Kilometern fahren wir nebeneinander her, meist schweigend, Reisegeschichten sind ja schnell erzählt. Da vorne liegt Bourg-Saint-Andéol, sein Wohnort. Im letzten Jahr radelte er die Via Rhôna ab Genf und nein, südlich von Lyon existiert tatsächlich kein Radweg, gibt es kein Entrinnen, da musst du auf die Straße, da hast du dich nicht getäuscht, Herr Irgendlink. Friss Dieselrußgestank.

In Bourg-Saint-Andéol biegt mein schweigsamer Freund ab und ich kaufe in einer Épicerie in dem schönen alten Städtchen eine Orange und ein Bier. Der Besitzer wollte sich gerade einen Joint bauen, als ich eintrete. Vom Band tönt Reggaemusik und ach, diese kleinen Städtchen alle. Wunderbar verwinkelte Etwasse. Eigentlich bräuchte man viel mehr Zeit für diese Route.

Zuvor hatte ich in Rocquemaure auf Anraten der Twitterkollegen @spmrider und @RecumbentTravel noch Wasser getankt. Auch wenn das alte Dorf nicht an der Via Rhôna liegt, lohnt sich ein Abstecher über die offenbar eigens für Radler und Fußgänger gebaute Hängebrücke. Ein verwinkeltes Etwas mit einer sehr populären Trinkwasserquelle. Aus zehn Rohren läuft im Brunnenhaus permanent Wasser und die Leute kommen von Nah und Fern, füllen kanisterweise ab. Wohnmobile und Kleinlaster fahren vor.

Ob dem Wasser eine Heilwirkung nachgesagt wird, frage ich einen Dorfbewohner. Nicht dass er wüsste, es sei einfach nur gut. Sein Vater und sein Großvater haben in der Abfüllanlage gearbeitet, die es einmal gab (ich konnte nicht herausfinden, ob sie noch immer in Betrieb ist, ich glaube, er sagte nein). Ganz früher habe man die Adligen mit dem Wasser beliefert.

Der gestrige Tag war der bisher wärmste Reisetag. Gegen Abend klarte die braunbläuliche Luft auf. Wunderbares Fotowetter und auch mal einfach so eine halbe Stunde draußen sitzen, ohne auszukühlen, radeln ohne Handschuhe. Die Lagerplatzsuche in der topfebenen Gegend nahe Pierrelatte war schwierig. Besessenes Land. Beregnungsanlagen. Einsame Gehöfte mit Hunden. Kein Camping weit und breit. Schließlich lande ich doch noch auf einem schönen Plätzchen am Fuß des Hochwasserdeichs. Eingekeilt von einem unheimlichen Donnern aus Richtung des nahen Kernkraftwerks und dem Brunftschrei argloser Tiere im Schilfland.