Tag #22 – Infos aus der Homebase

Ein gefrorenes, rauhreifes Zelt sieht zwar witzig aus, aber wie soll man das einpacken? Falten, wie Origami? Als Irgendlink heute früh erwachte, erwartete ihn eine stein- und beingefrorene Umgebung.

Dass es zu kalt für Schneidersitzbürobloggerei war, verstehe ich gut.

Aus Cruas erhalte ich später eine Threema-SMS. Irgendlink erinnert sich an einen Blogartikel von vor fünf Jahren. Als er über ein Bild und eine Reise geschrieben hatte. Mit seinen Stichworten finde ich den Text schnell (hier klicken). Wie es heute dort wohl aussieht?

Er radelt weiter, durch Montélimar, nach Süden und hat nun nach Pierrelatte sein Zelt aufgebaut.

Rocquemaure, die enge Altstadt.
Panorama nördlich von Donzère
Heiko Moorlander’s ‚Mud Art Machine‘

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Tag #21 – Infos aus der Homebase

»Eine erste So-sollte-es-sein-Mittagspause. Mit Sonne, Picknicktisch, Funknetz und Keinlärm«, schrieb Irgendlink am frühen Nachmittag auf Twitter.

Aber er schrieb auch: »Dann die Sache mit dem Heimweh, das manchmal kommt und nagt, je mehr man sich die eigenen vier Wände vorstellt.«

Die Straße als einziges großes Wohnzimmer zu betrachten, ist das eine. Das andere, sich in diesem großen Wohnzimmer heimisch zu fühlen. Ob sich wohl die Fremde bei Schönwetter ein bisschen weniger fremd anfühlt?

Das heutige Nachtlager hat Irgendlink bei Valence aufgeschlagen. Halbwegs ruhig, sei es dort, aber halt viele Straßen …

Nun ja, Straßen. Wege. Pfade. Mal sind sie uns Angstgegner, mal Wohlfühlrouten − und wieder wird mir, in der heimischen Stube, bewusst, wie sehr eine Radreise pures Leben ist.

Panorama in Tain-Tournon
Pavillon in Valence

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Und Lyon #Gibrantiago

Anmerkung: dieser Artikel liest sich vielleicht gut zu den Klängen von ‚I Want More‘ aus dem Album Flowmotin der Band Can.

Und dann Lyon, der Angstgegner, der sich schon zig Kilometer vor dem Zentrum in Villette als mutmaßlich hektisch erweist und nur acht Kilometer nach dem gestrigen Etappenstart windet sich ein sandiger, gut fahrbarer Weg am Rhôneufer und will und will nicht aufhören und der angekündigte Regen geht nieder und du ziehst die Regenhose über unter einem schrägstehenden, mit Efeu bewucherten Baum, der seine Last mit Würde trägt und vereinzelt ziehen regennasse Radler an dir vorbei, woher kommen sie, wohin gehen sie, wollen sie zur Arbeit und an jeder nur erdenklichen Ecke des Wegs, an der man zweifeln könnte, ob rechts, links, geradeaus, hält sich wie durch ein Wunder ein Engel auf, meist in Holzfällergestalt, oder mit schwerem Ölzeug bewandet als Bauarbeiter verkleidet, wie jener bärtige Kerl, den du fragtest, kann ich da am Fluss einfach so weiter, oder muss ich der Veloroute durch die Auen folgen, und er dir zunickt, klar, immer am Fluss bis Lyon und er dir nachruft auf deutsch bis bald und du ihm zurufst auf Wiedersehen und der Regen lässt ein bisschen nach und unter Brücken kannst du kurz durchatmen, die Stadt ist nah und laut und überall schwirren Autos und Mopeds und Dieselrußgestank liegt in der Luft und der Weg führt durch zwei oder drei Parks und plötzlich, die Stadt und ab nun bemühst du den Track auf dem Handy GPS und halt, Moment, diese Hausboote, das gibts doch gar nicht, da haben die einen golfplatzähnlichen Park angelegt mit einem Baum in der Mitte und alles ist umzäunt und videoüberwacht und eine Junkie kommt auf dich zu mit ihren knollenartigen Knien und labert dich an und du tritts ordentlich rein und ignorierst sie, während ein paar andere unter einer Brücke dir nachpöbeln und es dir eiskalt den Rücken runterläuft und dir wird die Zwiespältigkeit der Stadt bewusst, ihr kraftvoller Motor, der die Menschen ehrfürchtig anzieht, weil, hier spielt die Musik, und es kann nicht jeder schaffen, und die Vegetierenden ducken sich ängstlich verloren in wind- und regengeschützten Ecken, während du vorbeizischst, in der Hoffnung, nicht überfallen zu werden und mit all dem hochpreisigen Zeug am Leib musst du wirken wie eine goldene Gans, die man nur schlachten muss und rüber zur Saône folgst du einem radelnden Mädchen, das beflissentlich alle Ampeln ignoriert und bloß nicht den Fluss verlieren, langsam sickert der Dauerregen unter die Klamotten und mischt sich mit Schweiß, der nicht verdunsten kann und die Handschuhe sind klatschnass und warum ist es so verflixt schwer, mit klammen Händen in trockene Handschuhe zu schlüpfen, aber mit trockenen Händen in nasse geht ganz einfach und plötzlich, das Ortsausgangsschild schon und direkt geht die Stadt über in den Stadtteil Mulatière, was so arabisch klingt, findest du, und drüben im Hafen haben sie futuristische Häuser gebaut, knallrot und giftgrün und der Hafen jault und in den Häusern sind riesige Löcher mit Terrassen und Balkonen, soweit du erkennen kannst und der Regen lässt nach und der Regen starkt auf und das Grau des Himmels lastet insbesondere hier an der recht stark befahrenen D 15, der du seit dem Aquarium folgst, gar schwer, und da kommt dir der Typ gerade recht, der sich im Vorbeifahren aus dem Fenster seines Transporters beugt und dir quer über die Straße zuruft, bonne Chance, wie eine Comicfigur sieht er aus mit übergroßen Brülllippen und weit ausladender Geste mit dem linken Arm, und du denkst, du hast es langsam geschafft, als in Irigny endlich der erste Fetzen Radweg entlang der Straße auftaucht und du dich plötzlich fühlst wie ein kleiner Scott-Amundson, den Südpol erobert, Flagge gesteckt und du dahingleitest auf deinem superschnellen fünfzig Kilo schweren Seelenbike und der Radweg wieder aufhört und du in einer Lärm und Dunstglocke dreißig Kilometer hinter dich bringst und dir derweil überlegst, wieviele Päckchen Zigaretten umgerechnet wohl eine Stunde Radeln im Dunstkreis Lyons ausmacht und dann Givry und dann Givors und das Gedenkschild an die fünfzehnte Etappe der Tour de France im Jahr 2013, die nach 242 Kilometern auf dem Mont Ventoux endete und ach, fast hättest du es vegessen, dieses Hinweisschild, auf dem Stand, La Mer 368 Kilometer, ein vier, fünftägiger Nachdensternengriff und schwupp, Sand, Sonne, Süden und endlich-endlich kurz hinter Givors wieder Via Rhôna-Radwegschilder und ein solid ausgebauter echter Radweg und das Tal weitet sich und kurz vor der Abenddämmerung kannst du das Glück gar nicht fassen, dass du in einem Mandelhain ein Zeltplätzchen findest, das weit genug weg ist von allen Straßen und der Autobahn und den beiden, donnerwetter sind die laut, die Bahnlinien und du baust das Zelt im Regen auf, wirfst schnell alles Essbare und die Technik hinein, kurbelst den Trangia an, der dir als Zeltheizung dient und denkst über die Idee nach, einen Blogartikel mit ganz vielen Unds zu schreiben, ach, egal, du bist ja frei, tu es und sei erstaunt über die Schönheit und den Rhythmus, der ihm innenwohnen wird.

Tag #20 – Infos aus der Homebase

Bleiben und einen Tag Pause machen, Lyon vom Campingplatz aus besichtigen oder aber weiterradeln?
Irgendlink hat sich fürs Weiterradeln entschieden, weil er keine Möglichkeit gefunden hat, ohne Rad nach Lyon zu gehen, um die Stadt zu Fuß zu erleben. Sprich: Kein Zug, kein Bus, keine Mitfahrgelegenheit.

Seine heutige Herausforderung? Die Riesenstadt Lyon queren ohne sich dabei rechts und links anzustoßen.

Die Tweets und SMS des heutigen Tages klingen, was Lyon und Großstadtstress betrifft, besser als vermutet. Laut zwar, aber das war ja zu erwarten gewesen. Aber der Regen und die Kühle waren heute eher suboptimal, aber die Stadt … tja, wir werden sicher bald näheres erfahren. 

Lyon, am Ufer der Saône
 
In einem Obstgrundstück hinter Ampuis, wo es schön ruhig ist, hat er nun – im Regen – das Zelt aufgebaut. Er sei zufrieden und froh, schrieb er soeben.

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Herrn Irgendlinks kindliche Weltausgleichsformel #Gibrantiago

Gerade habe ich in einem Intermarché die Vorräte aufgefrischt, Butter, Trinkjoghurt, Kleinigkeiten für vier, fünf Euro, bin weitergeradelt zur Bäckerei hinter der Rhônebrücke rechts, hatte man mir erklärt, habe ein Baguette gekauft und ein unendlich fettiges, leckeres, pizzaähnliches Ding, überquere nun die Hauptkreuzung im Dorf, vorbei an einem ziemlich verdreckten Kerl mit Fahrrad in Lumpen und Plastiktüten, unterwegs rhôneaufwärts. Kurzer Gruß über die Straße hinweg. Dann sind wir beide in unsere Richtungen unterwegs. Begegnungen, wie lange dauern sie? Was sagen kurze Augenblicke des Sichtkontakts über uns aus?

Schon sitze ich abseits im Dorf auf einer Mauer, nicht sehr gemütlich direkt an der Straße, aber ich musste unbedingt stoppen, um die Pizza zu essen, die man mir in der Boulangerie gewärmt hatte, solange sie noch warm ist.

Der Bettler geht mir nicht aus dem Kopf. Ich frage mich, was das für ein Leben ist, hinausgekugelt aus dem gesellschaftlichen Gefüge. Keine Freunde, die einen mal für ein zwei Nächte beherbergen. Kein Geld, minderwertiges Material, aus Kleidersspenden zusammengestoppeltes Outfit. Kein Ort, an den man zurückkehren könnte in die wohlige Mitte der Gesellschaft. Vom Winter bedroht, vom Frühling verhöhnt, vom Sommer und Herbst ver-was-auch-immert. Verdammt, auf Ewigkeit alleine, schmutzig, endend durchs Land zu ziehen ohne Ziel. Auf der Flucht und noch nicht einmal zu wissen wovor.

Die aus der Gesellschaft ausgekugelten. Wie nimmerreparierbare Hüftgelenke.

Ich bin ja so verwöhnt, dämmert es mir. Zugegeben, ich bin nicht reich, und wenn man die Armutsgrenze aus dem kürzlich veröffentlichten alljährlichen Armutsbericht als Bemessungsgrundlage nehmen würde, könnte man aus mir vielleicht zwei Arme machen, rein materiell gesehen. Aus dem Mann, der mir eben begegnete vielleicht fünf oder zehn? (Anzahl der Armen, die du bist: Durchnittseinkommen durch dein Jahreseinkommen). Ich weiß es nicht.

Es geht vielleicht nicht einmal so sehr um Materielles, was die Armut betrifft, die Flucht und all die modernen Übel, sondern um Perspektive.

Ich gondele mit geringsten Mitteln durch Europa, habe ein konkretes Ziel vor Augen und die selbst erdachte Mission, alle zehn Kilometer zu fotografieren, zu bloggen, zu twittern, Kunst zu schaffen und das Leben auf der Straße auf meiner kleinen, virtuellen Bühne hochleben zu lassen. Das alles mit dem Hintergrund, jederzeit aufhören zu können, jederzeit in den Zug oder gar den Flieger steigen zu können und daheim – zwar keine Luxuswohnung, aber immerhin – ein solides Dach über dem Kopf vorzufinden. Freunde zu haben, mich fallenlassen zu können, die Wunden zu lecken und zu heilen.

All das hat mein mir eben begegneter Fremder vielleicht nicht. Und wenn ich dem kurzen Blick, weniger als eine Sekunde im Vorbeizischen in seine Augen trauen kann, meinem Gefühl, dann hat er definitiv nichts und niemanden, der oder das ihm auch nur irgend Halt gibt in dieser Welt.

Schon fabuliere ich, auf dem Mäuerchen sitzend, Pizza schmatzend an meiner kindlichen Weltausgleichsformel, die ich mir irgendwann einmal ausgedacht habe. Eine Formel, die Teilchenphysik mit Sozialwissenschaft mischt: immer wenn sich zwei Menschen begegnen (wie Teilchen, die aufeinandertreffen in einem Teilchenbeschleuniger), müsste die Regel gelten, sie legen all ihren Besitz zusammen und teilen durch zwei und gehen dann weiter, so lange, bis sich alle Menschen dieser Erde begegnet sind und logischerweise alle gleichviel vom großen Weltenkuchen abbekommen haben. Im Fall hätte ich die etwa 150 Euro in meinem Geldbeutel mit den vielleicht dreißig Euro aus dem Geldbeutel des Bettlers zusammenlegen müssen und am Ende wären er und ich mit 90 Euro in unsere jeweiligen Richtungen weitergezogen. Kalte Teilchen vom großen Weltenbeschleuniger zur Kollision gebracht.

Ich gebe zu, die Idee ist kindlich, naiv, aber man muss manche Ideen trotzdem denken, wenigstens denken.

Niemand würde das tun, der genug hat, einem x-beliebigen Fremden gegenüber den Geldbeutelinhalt offenbaren und teilen. Niemand. Auch ich nicht.

Das Wohlfühlradeln hat ein vorläufiges Ende ziemlich genau mit Eintreten ins Departement Ain. War die Via Rhôna am Vortag zwischen Seyssel und ungefähr Morestel noch als eigene, kleine Miniautobahn durch die Flussauen ausgebaut, muss ich nun auf zwar ruhige Landstraßen ausweichen. Ab der Kirchenruine Saint Martin de Vernas führt der Radweg aber auf feierabendlich hektischer Landstraße. Viele LKWs. Einzig beruhigend ist, dass ich an dem schönen Vorfrühlingstag nicht alleine bin. Hunderte Rennradler, teils in Gruppen von zwanzig Fahrern, radeln auch in der Verkehrshektik. Rücksichtsvolle Überholmanöver. Ich orientiere mich an dem GPS-Track, der in Schlangenlinien versucht, die Hauptstraße zu umgehen und dabei auf kiesige Holperpfade ausweicht, auf denen man teilweise nur Schritttempo radeln kann mit all dem Gepäck. Das kurze Stück nach Villette d’Anthon, nur etwa zehn, fünfzehn Kilometer zieht sich. Von Norden nähern sich Wolken. Die Einflugschneise von Lyon Saint-Exupéry grüßt mit Fluglärm. Deutlich spürt man den Einfluss der Großstadt. Die Wohngebiete sind videoüberwacht. Überall Verbotsschilder, Zäune, Hunde, Securityfirmenschilder, Wachsameaugensymbole. Je mehr Stadt, desto größer Armreich.

Die Schere.

Schon in Baume-les-Dames nördlich des Juras habe ich die Schere am eigenen Leib zu spüren bekommen, als ich auf einem Campingplatz übernachten wollte, der aber nur Wohnmobile aufnimmt. Keine Europennerzelte. Wenn du ein Hunderttausend-Euro fahrbares Haus hast, bist du dort gerne gesehen, aber mit Zelt und Fahrrad, schickt man dich einfach fort (Claire, die Platzwartin, hatte mir liebenswerterweise ein Gästezimmer ertelefoniert, es war ohnehin grenzwertig kalt in jener Nacht).

Dennoch, im Laufe meiner Lebensjahre kann ich das Aufklappen der Schere am eigenen Leib spüren. Kam man früher für zwanzig, dreißig Euro in einer Pension unter, sind es heute fünfzig bis achtzig. Wurde man früher mit Zelt und Fahrrad für acht Euro auf einem Campingplatz aufgenommen, darf man heute froh sein, dass überhaupt der Menschentyp Europenner, Mensch mit Zelt, noch legal existiert. Wir verillegalen uns gegenseitig, oder das System tut es für uns.

In Villette steuere ich in feierabendlicher Hektik den Campingplatz an, von dem ich mir schon vor der Reise Daten aus dem Internet gesucht hatte, ob er offen ist etwa. Ja, ganzjährig. An der Rezeption begrüßt man mich freundlich ratlos und fleddert erst einmal den Computer, denn der Typ einzelreisender Zeltradler für nur eine Nacht, existiert eigentlich nicht im System. 

Mindestaufenthalt ist zwei Nächte und das Hauptgeschäft des Campinparks ist die Vermietung von Hütten und, wie ich später sehe, unheimlich phantasievollen Baumhäusern. Dennoch gibt es eine Zeltwiese neben Tennisplätzen, achja, und gleich gegenüber ist eine Ferienranch, hoch umzäunt, aus der ich just in diesem Moment, in dem ich dies schreibe, eine Art militärische Vorbeterei höre, sprich, einer brüllt etwas vor und eine ganze Schar brüllt im Chor ihm nach. In meiner Vorstellung machen da Uniformierte irgendwas für oder gegen vermeintlichen Weltfrieden, aber hey, das hier sind Ferienanlagen, ein Golfplatz mit was weiß ich wievielen Löchern zieht sich hinüber nach Lyon, das kann nur eine Animation sein.

Pierre, der neue Chef des Platzes, setzt alle Hebel in Bewegung, um mich zu legalisieren, sucht den billigsten Tarif aus dem Computer, berechnet die Kurtaxe, insgesamt kommen wir auf sechzehn Euro und vier Cent für eine Nacht (was meine insgeheime Schmerzgrenze von 15 Euro um 1,04 Euro überschreitet, aber hey, schlägt Pierre vor, ich darf zum gleichen Preis auch zwei Nächte hierbleiben. Er hat das Herz am rechten Fleck. Mit einem akkubetriebenen Golfcaddy flankiert er mich zur Zeltwiese, besorgt mir ein Verlängerungskabel, damit ich die Akkus aufladen kann, drückt mir schließlich noch eine Art Geschenkbox, einen bunt bedruckten Kubus aus Pappe, in die Hand, in dem sich ein Müllsack und eine Rolle Klopapier und eine Schachtel Streichhölzer befinden. Unter den phantastischen Baumhäusern steht nun mein Zelt.

Außer Einflugschneise ist der Platz sehr idyllisch. Ein schöner Familiencamping vor den Toren Lyons.

Meine Idee, heute zu ruhen und mit dem Zug nach Lyon zu fahren, muss ich wohl aufgeben. Es gibt keinen Bahnhof in der Nähe. Ich wäre auf Mitfahrgelegenheiten der wenigen Campinggäste angewiesen.

Ich werde nun frühstücken und schaffe es hoffentlich noch vor dem angesagten Regen um zehn Uhr, das Zelt trocken abzubauen.

Nachtrag: nebenan wird geballert. Ist das etwa ein Gotcha-Gelände?

Nachtrag zwei: Der Regen setzt ein.

Nachtrag drei: Juhuuu (in Moll gesungen).

Tag #19 – Infos aus der Homebase

Weil die Bauarbeiter ihn am Morgen vertrieben haben, versprach uns Irgendlink, später zu bloggen. »Zelt steht neben einer Radwegbaustelle. Das LKW-Brummen nervt. Ich baue ab«, twitterte er schon früh.

Doch es will und will keine Bank aus dem Weg wachsen. Ich blogge später, schreibt er mir. Und später … ach, später … Ja, auch das macht eine Reise mit einem Menschen: Prioritäten verschieben sich. Und so folgt er den Radwegschildern an der Rhône, die ihn an Kühltürmen vorbei lotsen. (Zu Frankreichs Kernkraft auf einer Karte: Hier klicken).

Eine Kirchenruine mit Friedhof vor Atomkraftwerk. Unheimlicher Ort.
Eine Kirchenruine mit Friedhof vor Atomkraftwerk. Unheimlicher Ort.

Mitten auf der Straße dann dieses Symbol vermeintlicher Sicherheit:

eingemauert
eingemauert

Auf dem Campingplatz von Villette-d’Anthon hat er heute sein Nachtlager aufgebaut und überlegt sich − auch wegen des Spezialpreises, den ihm der Campingwart gemacht hat − einen Tag länger zu bleiben.

So sieht es dort aus: Hier klicken zum Street View-Link.

Zum heutigen Track bitte hier ⇒ klicken.

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Tag #18 – Infos aus der Homebase

Defintiv mehr abwärts als aufwärts fuhr Irgendlink heute und kurz vor Seyssel stieß er wieder auf die Rhône. Ihr ist er bis zu seinem heutigen Nachtlagerplatz gefolgt.

Ziemlich nah am Wasser hat er heute Abend sein Zelt gebaut. (Aber nur das Zelt, keine Angst.) Er klang froh, vorhin am Telefon. Trotz des schlechten Netzempfangs, war das zu hören. Aber müde sei er, sagte er, und dass er morgen Sonnencrème kaufen müsse. Denn so ein sonniger Tag verspricht Frühling. Und weitere sonnige Tage.

Seyssel
In Seyssel
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Barques sedimentées I
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Barques sedimentées II

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Zur klassichen Version der heutigen Etappe bitte hier ⇒ klicken. (Ungefähre Route).

Anthropobiberozän #Gibrantiago

Der Genfer Flughafen nervt seit bald hundert Kilometern. Seit Nyon höre ich die Flieger ein- und ausfliegen im gefühlten Fünfminutentakt. Nachts formulierte ich einen Artikel über das kürzlich ausgerufene Anthropozän, das Menschzeitalter. Manchmal müsste man im Halbschlaf Gedachtes mitschreiben können. Der Artikel gipfelte jedenfalls darin, dass ja auch Biber massiv in ihre Umwelt eingreifen, indem sie Bäume fällen, Flüsse stauen und Burgen bauen. Das Biberozän. Alles ist doch Natur, faselte ich im Halbschlaf, also auch der Mensch mit seinem Lärm, seinem Schnell, seinem ‚Immer weiter, immer größer‘. Ich war versöhnt.

Die gestrige Strecke war anpruchsvoll, sprich, es gab einiges zu klettern, schon auf dem Weg durch die Weindörfer hinein nach Genf. Und in Genf. Kilometerweit überholte ich einen Autostau von Besuchern des Autosalons. Gestern war der letzte Tag, erfuhr ich auf Twitter.

Die Stadt selbst? Ich nehme mir nicht viel Zeit, radele auf dem gut beschilderten Radweg vorbei an reichen und armen Leuten, wobei die Reichen zu überwiegen schienen. Überall Videoüberwachung und Glas und Limousinen und Pelzmäntel und Designerjoggingmode. Dann eine etwas verkommenere Gegend. Ein bisschen erinnerte die Radwegführung mich an den Süden Londons, die Docks, die engen Gassen, nur ohne Gestank. Drei Kerle lungerten auf dem Radweg und als ich langsam heranschaukelte, kam einer auf mich zu, Bonjour grinsend, ça va?, fragend, während die beiden anderen, wie die Raptoren in Jurassic Park, strategische Umzingelungspositionen einnahmen. Jetzt bloß nicht anhalten, bloß nicht in ein Gespräch verwickeln lassen, bloß nicht diese angetanzte Freundlichkeit mit einem Hallo, schön, dass ihr so lieb zu mir seid!, erwidern, Augen zu und durch. Tse. Genf.

Später, im westlichsten, letzten Zipfel der Schweiz, sehe ich mich von Bergen umzingelt und kann mir kaum vorstellen, dass ich da ohne größere Bergetappe durchkomme. Wenn der Mensch wollte und wenn es sich finanziell lohnen würde, könnte er die Berge einfach abtragen. Ein liebes langes Anthropozän lang Zeit dafür hätte er gewiss.

Die Radwegebauer der Via Rhôna und des Radwegs Leman-Mediterranée (Genfersee-Mittelmeer) haben großartiges geleistet und so schlängelte ich mich auf teils nigelnagelneuen Routen, die noch nicht im GPS-Track vermerkt sind und ruhigen Landstraßen durch die faltige Gegend entlang der Rhône. Ganz ohne Steigung ging es leider nicht, aber es war erträglich.

Falls ihr einmal die Strecke fahren wollt, zwei Tipps: fahrt die Rhône abwärts und dort, wo ihr zwischen dem „forte“-Radweg über die Landstraße und dem „sportif“-Radweg über einen geteerten Waldwg wählen könnt, nehmt die Landstraße :-).

Nach siebzig Kilometern finde ich nahe Chessenaz eine tolle Zeltwiese. Unten jault die Nationalstraße. Eine Kettensäge. Der Wind, der mich drei Tage lang begleitete, hat nachgelassen.

Nach Büroarbeiten im Schneidersitzbüro auf der Luftmatratze werde ich nun mal frühstücken. Einen schönen Wochenbeginn euch allen.

Tag #17 – Infos aus der Homebase

Irgendlink ist nun wieder in Frankreich und sein Handynetz ist, zumal er zurzeit durch eher gering besiedeltes Gebiet radelt, eher mager. Was von der heutigen Strecke wohl eher nicht zu sagen ist … rauf und runter und ein bisschen Himmelblau.

Himmelsrad
Panorama auch mal hochkant einsetzen. Das Europennerfahrrad in der Einflugschneise nach Genf.

»Dann war da noch die Frage, runter ins Tal zu fahren und vielleicht kein Netz, oder hier im Wind am Hang zu zelten«, twitterte Irgendlink vor einer Stunde. Und ich nehme an, dass er − so jedenfalls sieht es auf dem Track aus − den Platz auf dem Plateau genommen hat. Was man nicht alles für ein gutes Netz tut!

Katze in Chessenaz
Die Katz‘ von Chessenaz guckt das Europennerrad.
Foto 1
Selfie in Genf
Foto 2
Müll an einer Rhônestaumauer
Foto 3
Kirche in Chessenaz

Ich habe ihm soeben von der nahen Pizzeria geschrieben. 🙂

Zum heutigen Track bitte hier ⇒ klicken. (Wieder gab es Unterbrüche bei der Aufzeichung, total waren es um die 80 Streckenkilometer durch die Berge).

Zur klassichen Version der heutigen Etappe bitte hier ⇒ klicken. (Ungefähre Route).

Rückenwindfrühling #Gibrantiago

Gestern war Pannentag … nein, das ist das falsche Wort. Wenn ich ein belgisches Kernkraftwerk wäre oder Fessenheim, dann wäre wohl irgendwas Kritisches passiert, man habe aber die Sache unter Kontrolle, kein Grund zur Beunruhigung und alles geht weiter wie bisher. Typisch Mensch. Den Schweizer Radweg Nummer 5 entlang des Bielersees und des Neuenburgersees und des Jurasüdfußes werde ich wohl nie wieder radeln. Er ist langweilig zwischen Biel und Estavayer und zwischen Yverdon und Sarraz. Danach nervt er mit Flußwegvermeidung und anstrengenden Aufs und Abs bis hinüber in die Weingegend am Genfersee. Dort, wo er die Route 63 kreuzt, die schräg am Jura entlang nach Rolle am Genfersee führt, verlasse ich ihn, obwohl die Karte wieder einmal vorgaukelt, dass er ab nun nur noch an einem Bach entlang führt bis hinunter zum See. Die Route 63 ist zwar auch ziemlich buckelig, aber das habe ich nicht anders erwartet.

Wieder einmal wird mir klar, wie wichtig der Einklang der eigenen Vorstellung mit der Realität ist. Weicht deine Vorstellung ab von dem, was du vorfindest, fühlst du dich schlecht, verkrampfst dich, versuchst auf teufelkommraus den friedlichen Radweg am Fluss, der sich dank deiner Vorstellung auf idyllischen Pfaden durch Auen schlängelt, per Gedankenkraft zu erzeugen, was dem Körper aber ganz und gar nicht schmeckt, wenn er gerade einen Stich von ein, zwei Kilometern hinauf in ein Weindorf kurbelt.

Bei der 63 vermutet der Kopf sofort, das wird eine elende Auf- und Ab-Schweinerei. Realität und Vorstellung sind deckungsgleich. Guter Deal.

Die zwanzig, dreißig Kilometer erinnern mich an die Nordpfalz, wo ich groß geworden bin. Weites, grünes Land war der Slogan meines Landkreises. Weites, buckeliges Land. Der einzige Freund, den ich habe, ist der Rückenwind. Zahlreiche Radler kommen mir entgegen. Meist Rennfahrer mit vollvermummten Gesichtern. Im Gegenwind herrscht strenger Winter. Ich radele jedoch im Rückenwindfrühling nach Westen.

Ein abgestorbener Baum auf beigefarbenem Acker, Waschhäuser in den Dörfern, da: ein Café. Schnell rein. Ich ruhe einen Moment.

Das Ladekabel vom iPhone ist defekt. Haarrisse in Reaktor Nummer eins. Die linke Tretkurbel ist locker, ein Supergau steht bevor. Wenn sich Tretkurbeln lösen, kriegt man sie in der Regel nie wieder festgezogen. Sie sind dann so ausgeleiert, dass man sie austauschen muss. So war es zumindest früher, als sie noch vierkantig und konisch waren. Nun habe ich aber eine mit Sternzacken. Beherzt ziehe ich die Schrauben an, ohne auf die Newtonmeterangaben zu achten, die daneben geschrieben sind. Sitzt wieder. Und nun, da ich dies schreibe, sechzig Kilometer gekurbelt, kann die innere Atomkurbelaufsichtsbehörde in mir Entwarnung geben, alles halb so wild.

Endlich am See. Samstägliches Treiben. Die Pumpe ist wieder dominant. Ein Hin- und Herzischen von Landstraßen und Autobahnen ist das, von Bussen und Schnellzügen, und über allem schwirren die Flieger zum Genfer Flughafen. Wind und Straßengesäusel. Was für ein Konzert.

Der Radweg verläuft auf einer schiefen Ebene am See, nie direkt am Ufer, stets entlang der Autobahn oder der Bahnlinie. Wenn man im Neunzig-Grad-Winkel zur Ebene fährt, muss man für ein paarhundert Meter steil berghoch oder runter oder man muss über 10-15 Prozent-Rutschen eine Brücke erklimmen, um über die Schiene oder Autobahn zu kommen. Ansonsten ist die Route 1, die Rhôneroute, sehr flach.

Und ebenso wie die 5 nicht zu empfehlen. Im Herbst, wenn die Weinlese duftet, könnte es ganz schön sein hier, stelle ich mir vor.

In einer Postfiliale kaufe ich ein iPhone-Kabel. Das Telefon dümpelte den ganzen Tag bei etwa 1 bis 10 Prozent Ladung. Nicht auszudenken, wenn es ausfallen würde. Die Kernschmelze der feinen Künste. Keine Fotos, keine Blogeinträge, kein Twitter. Das gesamte, zehntausendstöckige Reisekunstgebäude hängt an einem dünnen Kupferkabel. Damoklesk.

Nun am Lagerplatz außerhalb von Nyon im Windschatten eines Wäldchens. In der Einflugschneise. Viel über den Mensch nachgedacht und wie er als Gesellschaftswesen insgesamt zu beurteilen wäre, wenn man nicht selbst Mensch wäre. Eine Plage wahrscheinlich? All der Lärm, die Schüsse der Jäger in der Nacht, all die massiven Eingriffe, aber das sind ja nur Haarrisse im Reaktor des Ökosystems.